Das dentsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 5.) 67
und die uns allen frisch in der Erinnerung ist. Ich frene mich, daß dem
Gedanken dieser Neigung durch Anträge eine praktische Gestalt zu geben, von
keiner Seite Ansdruck gegeben worden ist. Ich meine nicht Amendements;
ich meine Anträge auf Verfassungsrevision. Denn ich würde es bedauern,
wenn eine so junge und mühsam zur Welt gekommene Verfassung nun von
Neuem fungitus revidirt werden müßte. Ich bin wohl berechtigt, zu sagen:
von Grund aus; denn es handelt sich um das Erschüttern der Fundamente,
die Behufs der Machtvertheilung #vischen Reich, Bundesrath und Reichstag
gelegt worden sind, und die Erinnerung an die vergeblichen Versuche, die
wir in Frankfurt a. M. vor einem Menschenalter gemacht haben, um theo-
retisch diese Frage richtig zu lösen, sollte meines Erachtens Jeden abhalten,
an diese Grundlagen zu rühren. Wollen Sie, daß diese Berfasiung, die jetzt
dem deutschen Reiche ein Maß von Einheit ibt, das es seit Jahrhunderten
nicht gehabt hat, jeden Augenblick wieder in Frage gestellt werde? Wollen
Sie, daß die Einzelregierung sich die Frage rorlegen dürfe, ob sie an eine
modifizirte Verfassung, die ihr durch Mehrheitsbeschluß ausgedrungen wird,
sich noch in demselben Maße zu halten, moralisch verpflichtet nei, als sie es
ursprünglich war: Dieß der Grund, weßhalb ich mich freue, daß die krili-
schen Reden, zu denen die Verfassung den Stoff eben hergegeben hat, ach
nicht in beslimmten Anträgen aus Verfassungsrevision verkörpert haben. Das
Reden an und für sich über Dergleichen, was sein könnte, was wünschens-
werth wäre, was vom ideellen, doktrinären Standpunkte erstrebt werden
könnte, ist an sich ein ziemlich zun huldi Vergnügen, aber so ganz un-
schuldig, wie die Herren annehmen, doch noch immer nicht. Ich moöchte so-
gar behaupten, daß die Stellung eines bestimmten Antrages in mancher Be-
jiehung einen Vorzug hat; denn die Reden, die sich nicht an einen posiliven
Antrag anschließen, müssen sich fast nothwendig auf eine Kritik des Bestehen=
den beschränken, und es verbreitet sich dadurch eine Empfindung, die die
Herren sich dielleicht selbst einreden, als ob das Bestehende eigentlich ganz
unerträglich sei. Ich habe, bevor ich nach Berlin kam, in den Zeitungen
einen gewissen Stimmungsaus Sdrucck gefunden, der mich zum Nachdenken brachte:
was ist eigentlich in Deutschland geschehen, daß wir uns in einer so düstern
oder niedergedrückten Stimmung bezüglich der Gegenwart wie der Zukunft
befinden, wie die meisten Blätter dieselbe in ihren Leitartikeln schildern? Es
hieß überall: so wie es ist, kann es nicht bleiben, es muß ekwas geschehen,
dieser Zustand ist zu fürchlerlich. (Heiterkeit.) Nun, ist denn die Verfassung,
unter welcher wir leben, wirklich so schlecht und unerträglich Theoretisch
läßt sich ja Bieles gegen sie sagen, aber praktisch sind wir mit ihr doch
weiter gekommen, als mit allen theoretischen Versuchen; sie hat sich in Europa
Ansehen erworben, was niemals geschehen sein würde, wenn man sie dort
für so elend und verwerflich hielte, wie sie bei uns Feschildert wird. Ich
sann in der Einsamkeit des Landlebens nach: was ist meinen Landsleuten
geschehen, daß sie auf einmal so viel schlimmer daran sind, als vor einem
Jahre? Ist es vielleicht die verhältnißmäßige Ruhe und stete Eutwickelung,
in welcher wir uns im Vergleich zu anderen Ländern befinden, ist es unfser
Krofes Maß von Frieden? Gewiß trägt Das viel dazu bei; denn thaten-
durstige Herzen, die gerade keine weiteren sie auregenden und beschäftigenden
Aufgaben haben, als im Winter im Parlamente das Voll zu vertreien,
kommen nothwendigerweise im Sommer auf eine gewisse Unruhe, daß etwas
geschehen müsse: das Nevisionsbedürfniß wird so stark, daß es nur durch
Krieg oder innere Kämpse oder durch eine den ganzen Geist des tiefen Deu-
kers beschäftigende Kritik der untersten Grundlagen unserer Einrichtungen
befriedigt werden kann. Wenn alle unsere Volksvertreter in der Lage wären,
wie ich und Viele von uns, daß sie froh sind, das Leben zu haben und ihre
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