Des deulsche Reich und seine einzelnen Glirder. (März 24.) 81
Das Haus fügt sich, um nicht die Durchführung der neuen
Justizorganisation innerhalb des bestimmten Termins zu gefährden,
schließlich doch den Beschlüssen des Herrenhauses bez. des Gerichts-
verfassungsgesetzes sowohl beq. der Festsetzung der Amtsgerichte (nicht
durch Gesetz) als bez. der Competenz des Berliner Oberlandesgerichtes.
24. März. (Preußen.) Der neue Papst Leo XIlIII.
richtet gelegentlich seiner Thronbesteigung einen sehr freundlichen
Brief an den deutschen Kaiser, der über die Absicht des Papstes,
gegenüber Deutschland eine andere Stellung zu suchen, als sie
Pius IX. behauptet hat, kaum einen Zweifel läßt. Der Brief findet
in Berlin die freundlichste Aufnahme, ein Angebot zum Friedens-
schluß folgt aber darum nicht: die weiteren Schritte werden der
Curie überlassen; Deutschland kann trotz aller ultramontanen Agi-
tation seinerseits warten.
Noch unter Pius IX. sch cie man in Rom einen Augenblick Willeus,
mit Preußen sich ins Einvernehmen zu feten, hab diesen Plan aber sofort
auf, als man aus gewissen verlöhmnlichn Reden im preußischen Abgeordneten-
haufe schließen zu dürfen vermeinte, die Regierung habe den „Culturkampf“
satt, sei mürbe geworden und man könne sie an sich herankommen lassen.
Hat man jetzt geglaubt, durch Vornahme des ersten Schrittes die Regierung
mit vollen Segeln in das Vergleichsfahrwasser steuern zu sehen, so hat man
sich geläuscht. Die Curie leidet am meisten unter den jehigen Verhältnissen.
Acht Bisthümer ohne Bischöfe, Hunderte von Pfarreien ohne Pfarrer, die
ständige Abnahme von Studirenden der Theologie und die Zunahme von Geisl-
lichen, welche geseblich von der Anstellung ausgeschlossen sind, bilden keine
Aussicht für einen guten kirchlichen Forktgang. Viel schlimmer stehl es aber
in einer andern Hinsicht. Der Zustand in den verwaisten Diöcesen hat eine
für die Hierarchie bedenkliche Selbständigkeit der unteren Organe herbeigeführt.
Man hat alle Kräfte aufgebolen, um das Volk in die Opposition zu treiben;
der „Caplan“ ist zum Agitator auf der Kanzel, in der Presse, in Volks-
Versammlungen, in Vereinen geworden, welche dem Sozialismus eine „christ-
liche" Gewandung zu geben suchen. Nun fühlt man, was man gethan, der
„Zauberlehrling“ hat eine praktische Anwendung Uesunden; jetzt heißt es die
Geister bannen, die man heraufbeschworen. Man ist in Dentschland ver-
sichert, daß in Rom sich bischöfliche Stimmen geltend machen und schon gel-
tend gemacht haben, welche zum Einlenken rathen. Man zweifelte aber in
Nom an der Festigkeit des Staates und trieb diesen durch Widerstand von
Schritt zu Schrikt zu neuen Geseben, bis der Apparat fertig wurde, der dem
Staate geslattete, jeden Eingriff in seine Sphäre zu beseitigen. Man hat sich
jebt überzeugt, daß der Stant warten kann, die Hierarchie nicht länger warten
darf, wofern sie nicht ihre Macht selost“ zerstören will. Leo XIII. wird,
nachdem er den ersten Schritt gethan, sich zu weiteren entschließen, es sei
denn, daß die extreme Partei ihn sich dienstbar mache.
24. Märg. (Deutsches Reich.) Ein Delegirtentag der Hau-
dels= und Gewerbekammern Deutschlands in Leipzig findet die von
der Regierung dem Reichstage vorgelegten Ges.-Entw. betr. die Ab-
änderung der Gewerbeordnung und die Errichtung von Gewerbe-
Schulthess, Gurop. Geschichlslalender. XIX. Bd. 6