Das deulsche Reich und seine rinzrlnen Glieder. (Juni 18—24.) 191
nicht gleichgiltig bleiben gegen die Uebelstände, welche der Kampf hervor-
gerufen, könne nicht die Verantwortung übernehmen für die Verwilderung
der Sitten und die Irreligiosität, welche durch die Verwaisung der Pfarreien
entstünden. Der Angelpunct des ganzen Streites sei und bleibe die Frage:
hat die Kirche das Recht und die Pflicht, die Anzeige dem Staate zu ver-
weigern? Es sei absolut falsch, wenn behauptet werde, es sei eine erhebliche
Concession der Kirche, wenn sie sich zu dieser Anzeige verstehen wolle. Un-
zweifelhaft habe der Staat das Recht, von den Geistlichen dasselbe zu fordern,
was er von anderen Beamten sordere. Nicht die Anzeige an sich, sondern
die Folgen, die sich daran knüpfen könnten, seien die Ursache des Widerstandes.
Aber die Anzeige habe mit dem cewaigen Einspruch der Regierung oder des
kirchlichen Grrichtshess nichts gemein. Es sei deßhalb das Verhalten der
römischen Kirche der schlagendste Beweis, daß es sich hier nicht um Glaubens=
sachen handele. Was sich heute Preußen bieten lasse, bieten lassen solle,
habe sich kein einziger noch so kleiner deutscher Duodezstaat gefallen lassen.
Ler. Widerstand und der ganze Kampf seien ungerechtfertigt, deßhalb habe
sich die Kirche und das katholische Volk die traurigen Folgen selont zugu-
Oreiben und dürfen sie von keinem Martyrium reden. Mit Art. 1 sei er
persönlich einverstanden, und sowohl er als seine näheren Freunde würden
für das Gesetz stimmen, wenn die Artikel 4 und 9 ruuernt würden. Cultus-
minister v. Puttkamer: Da die Commissionsberathungen pro nihbilo
gewesen, könne es sich nur um die Regierungsvorlagen handeln. Die Ansicht,
daß die Haltung einer Partei zeige, wie Wenig der Regierung an der Vor-
lage liege, sei vollständig unbegründet. Die Regierung gehe solidarisch vor
in Ezüllung ihrer Pflicht gegen das Vaterland, ohne sich im Geringsten
von den Parteien irgendwie beeinflussen zu lassen. Die Vorlage sei keine
halbe und keine ganze Umkehr, sondern wolle einzig und allein dem Volke
den Frieden wiedergeben. Die Vorlage sei keineswegs geeignet, irgendwie
zu korrumpiren oder zu hinterlistigen Zwecken benutzt zu werden; sie solle
in loyalster Weise ausgeführt werden. Das Centrum habe stets den Fehler
begangen, in den Mageieten eine Verfolgung der katholischen Kirche zu
sehen. Das sei grundfalsch. In Württemberg bestehe Friede mit der Kirche,
vishon. dort bieselben Grundsäße gälten wie in den preußischen Maigesetzen.
aben es jedoch gar nicht mit dem Centrum, sondern mit unserer
lthorischen wen zu thun, der wir gern helfen möchten. Es ist nicht
richtig, daß wir das Centrum vernichten wollen; wir hoffen allerdings, daß
es alinählih“ W., perduften“ werde. Sie sagen ja selbst, wir sollten den
Culturkampf fortschaffen. Das soll die Vorlage bewirken; ob und wie weit
Das gelingen wird, bleibt abzuwarten.“ Schmidt-Sagan (freicolls. be-
tont, daß die freiconservative Fracion in *ie Lagen vollkommen unabhängig
und selbständig gehandelt habe. Die Anzeigepflicht und Unterwerfung unter
die Staatsgesehe seien conditio sine qua non für den zu erstrebenden Frieden;
darüber seien alle Parteien außer dem Centrum einig, daß nur von dieser
Basis aus die Verständigung gesucht werden könne. Die Conservativen
Kröcher und Strößer proclamieren dagegen offen den Gang nach Canossa.
Bei der Abstimmung über § 1 werden zuerst mehrere Amendements theils
abgelehnt, theils angenommen, schließlich aber wird der ganze Artikel mit
206 gegen 180 Stimmen abgelehnt. Unter der Minderheit sind nur 16
Nationalliberale mit Bennigsen. Das Resultat ist ein ganz unerwartetes.
Die Conservativen und noch mehr die Clericalen sind ganz verblüfft, da sie
mit der ganzen linken Seite des Hauses gestimmt hatten. Windthorst nennt
es eine gelungene Kriegslist der Fortschriktspartei. Die Sache kam so. Ein
einschränkender Antrag der Conservativen stand in der Reihenfolge der Ab-
stimmung vor der weitergehenden Regierungsvorlage. Die liberale Seite