306 Die Oesterrtichisch-Angarische Monarchit. (Juni 1.)
Reiche nimmt auch während der Kaiserreise der Kampf der Nationalitäten
seinen Fortgang. Den Czechen ist der Kamm gewaltig geschwollen, ihre
Organe bringen täglich weitergehende Forderungen, und auch anderwärls
im föderalistischen Lager hält man die Zeit für günstig für le möglichen
und unmöglichen Prätentionen. Schon droht der „Pokrok“ der Regierung
mit dem Aufhören der Freundschaft feitens ver Rechten, wenn die Landtags-
thätigkeit eingeschränkt werden sollte. Als die Hauptforderung der Czechen
wird von diesem Blatte munmchr die bruinter für Böhmen be-
zeichnet, eine Frage, welche. ie Graf Taaffe wissen müsse, nicht „in Süßig-
keit und Zärtlichleit sich Liiew osses Und diese Landtagswahlreform, welche
den Czechen für alle Zeit die Mehrheit sichern soll und die selbstverständlich
auf keinem von deutschen Wählern beschickten Landtage durchzusetzen ist, soll
dadurch geschaffen werden, daß die Hohenwart'sche Wahlordnung, welche vor
Jahren, als die Czechen unter sich waren, beschlossen, aber vom Kaiser
nicht sanctionirt wurde, nunmehr über die Köpfe des Landtags hinweg ein-
fach decretirt wird. Wenn ferner czechischerseits verlangt wird, der Kaiser
möge den böhmischen Landtag in Person eröffnen, so ist das noch nichts
gegen die Forderungen, die der slovenische Abgeordnete Hermann — derselbe,
der bei der Budgetdebatte behauptele: man sei in Oesterreich zu viel „ver-
kaisert" — im „Materland“ aufstellt. Derselbe schreibt wörtlich: In Wien
werden wir uns nie vertragen und vergleichen. Wir müssen verglichen wer-
den durch einen höheren Willen, und zwar dadurch, daß man uns trennt
und uns nur für gemeinsame Sachen zusammenruft.“ In allen Ländern
soll an die Stelle des Kaisers der „Landesfürst“, an die Stelle der Statt-
balterei die zandesregierung treten. „Kaiserlich königliche Landesregie-
rungen", lehrt das „Vaterland“ , „kann es nicht geben. Landesregierungen
können nur landesfürstliche sein.“ Es müsse eine „herzoglich steiermärkische
Landesregierung“ elablirt werden, wie es eine kgl. croa⅝ische Landesregierung
gibt, der Begriff „Staat“ sei überhaupt ein künstliches Gebilde, das sich
zwischen Land und Reich eingeschoben habe; er milse vertilgt werden, und
es dürfen in Zukunft nur Länder und Nei ch als staaerechtlich zulässige
Begriffe gelten. — Auf der anderen Seite nehmen die sich 9 leichfalls töglich
mehrenden Proteste von deutschen Verfassungstreuen gegen die Taaffe'sche
Politik einen immer schärferen Character an. So hat nach den Msshalugen
der Abgeordneten Jaques und Hosfer die Wählerschaft der inneren Stadt
Wien — die aus meist conservativen Elementen besteht — eine Resolution
gefaßt, welche die Politik des Ministeriums als eine die Interessen der
Deutsch schen i in Oesterreich gefährdende bezeichnet und die Solidarität aller
Deutschen in Oesterreich proclamirt. Wenn das officiöse „Fremdenblatt"
behauptet, die Kaiserreise nach Böhmen habe bereits zur Abschwächung der
Gegensätze beigetragen, so wird in unabhängigen Organen das stricte Gegen-
theil aufgestellt. Directe Befürchtungen werden zwar wenig daran geknüpft,
aber die Opportunität der Kaiserreise sehr angefochten. So schreibt die
r. Presse“: „Die Versö hnungsaction hat allen centrifugalen Be-
strebungen Nahrung und Kraft zugeführt und die, wenn auch, wie wir
überzeugt sind, irrihümliche Meinung, daß die Krone diesen Strebungen,
die sie einst verwarf, nunmehr gewogen sei, reißt Wunden wieder auf, die
schon verheilt waren. Nicht zwischen den Nationalitäten, sondern zwischen
den Principien schwebt wieder der Kampf, zwischen dem Staat und den
Ländern, zwischen Einheit und Zerstückelung, zwischen der centralisirten
Macht und der lähmenden Föderation. Wenn in diesem Kampfe die Neichs-
einheit, was der Genius Oesterreichs verhüten möge, unterliegen sollte, dann
wird nicht bloß das Deutschthum vom Slaventhum besiegt sein; der schlimmste
Verlust träfe die Krone, die so ohne Nothwendigkeit und ohne Nuhzen in