Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

530 Nebersict der politischen Entwichlung des Jahres 1880. 
Kaum im Amtt richtete denn auch die neue englische Regierung als- 
bald eine Circulardepesche an die Großmächte, in der sie auf eine 
schnelle und stricte Ausführung des Berliner Vertrags drang und 
schickte zugleich in Herrn Goschen einen Specialbevollmächtigten ne- 
ben dem Botschafter Layard nach Konstantinopel. Der Berliner 
Vertrag, der doch wesentlich gegen Rußland und zum Schutze der 
Türkei, eben um ihr den Lebensfaden nicht sofort abschneiden zu 
lassen, geschlossen worden war, sollte also in fein gerades Gegentheil 
verwandelt und dazu benützt werden, ihr neuerdings zu Leibe zu 
gehen. Damit war Rußland natürlich sehr einverstanden und mit 
Rücksicht auf die Stimmung Europas und seine inneren Zustände 
wohl zufrieden, wenn es England übernehme, seine Geschäfte zu 
besorgen; die übrigen Mächte waren es dagegen weniger: am wenig- 
sten konnte es selbstverständlich Oesterreich sein und um Oesterreichs 
willen auch Deutschland; Frankreich hatle sich noch zu sammeln und 
war vorerst nach auswärtigen Abenteuern nichts weniger als be- 
gierig, Italien aber hat keine feste auswärtige Politik, sondern ist 
lediglich fortwährend auf der Lauer, ob und wie vielleicht durch 
Anschluß an diese oder jene Macht im günstigen Augenblick ohne 
allzugroße Anstrengung etwas für dasselbe abfallen könnte. Keine 
von allen continentalen Großmächten war geneigt, die orientalische 
Frage neuerdings von Grund aus aufrühren zu lassen und damit 
vielleicht einem allgemeinen Kriege entgegen zu treiben. Aber einig 
über das, was zu thun oder zu verhindern sei, waren sie auch nicht, 
keine traute vielmehr der andern, und so wurde es für das beste 
erachtet, auf die englische Anregung vorerst einzugehen, überzeugt, 
daß einem allzu raschen Vorgehen bald von selbst unüberwindliche 
Schwierigkeiten sich entgegenstellen würden. 
Die englische Regierung hatte den Mächten gegenüber nament- 
lich vier Puncte des Berliner Vertrages urgirt, die montenegrinische, 
die griechische, die armenische Frage und die Reform der Provinzial- 
verfassung der europäischen Türkei. Die montenegrinische Grenzfrage 
erschien indeß als eine sehr untergeordnete, die armenische Frage 
hatte nur für England und Rußland ein specielles Interesse, die 
Reform der Provinzialverfassungen ruhte bereits in den Händen 
einer internationalen Commission, deren Elaborat zunächst abge- 
r wartet werden mußte. Die griechisch-türkische Grenzberichtigung bot 
cische sich daher als diejenige dar, die am besten zunächst in die Hand 
en. genommen werden mochte. Die vom Berliner Vertrage in Aussicht 
rage.
	        
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