Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

172 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 5—6.) 
am Dienstag und so jeden Wochentag bis Sonnabend — ich kann das Bei- 
spiel thatsächlich mit Daten belegen — und am folgenden Montag ist der 
Gegenstand der Etatberathung herangekommen, für den elwa ein Dutzend der 
höchstgestellten und am meisten thätigen Beamten eine Woche lang im Land- 
tage gesessen und Reden, die für diese gerade kein Interesse hatten, lange 
Reden angehört haben, und die ganze Sache ist für alle fünfzehn ohne ein 
Wort der Discussion vergangen. Sie konnten am nächsten Montag Abend 
nach Hause gehen. Das ist ein Zeittodtschlagen, das von dem System viel- 
leicht nicht ganz zu trennen, aber doch etwas zu vermindern ist. Auch den 
Ministern ist es so gegangen, den Leitern der Ressorts, die gerade in dieser 
Zeit viel zu thun haben, daß sie hier im Reichstag drei, vier Tage hinter 
einander erschienen sind auf die Gefahr hin, ob der zweite Gegenstand der 
Tagesordnung daran kommt oder nicht, und daß sie nachher nach Hause ge- 
gangen sind und einen Arbeitstag verloren haben. Man kann arbeiten, 
wenn man hier sitzt und zuhört, aber doch nicht jede Arbeit machen, nament- 
lich die ernsteren nicht. Ich möchte deßhalb all die Argumente, die der Herr 
Vorredner vorhin gegen das jetzige System der Hast anbrachte, für die Vor- 
lage der Regierung in die Schranken führen und sie fallen mit erheblichem 
Gewicht in unsere Wagschale. Wir werden Zeit haben, wenn der Reichstag 
oder der Landtag in demselben Jahre sich von Haus aus der Hoffnung hin- 
geben kann, daß es kein Unglück ist, wenn er seine Sitzungen auf 3 oder 
5 Monate ausdehnt, und die Arbeitszeit  der Minister in der Zwischenzeit 
so bemessen ist, daß sie wirklich die Vorlagen rechtzeilig feststellen können. 
Das ist sehr leicht gesagt, daß die Säumigkeit der Minister, welche die Vor- 
lagen nicht rechtzeitig bringen, schuld ist, wie ein Diener, der nicht rasch 
genug die Treppe heraufgekommen ist. Aber die Herren sollten doch einmal 
sehen, ob sie im Stande wären, in dieser kurzen Zwischenzeit die Dinge 
früher fertig zu stellen. Das Budget ist kaum votirt, so habe ich drei Tage 
darauf die Vorlagen für das neue bekommen, die bereits in vorräthiger 
Arbeit waren. So geht es in Preußen, so geht es im Reich. Die Herren, 
wenn sie hier mit ihren parlamentarischen Geschäften auseinander sind — 
dann mag es für einige unangenehm sein, in ihre Bureaur zurückzukehren, 
für die hören die Ferien auf, allerdings, für die anderen aber, die wirklich 
nur hieher gekommen sind, um den Beruf eines Volksvertreters wahrzu= 
nehmen, die diesen Beruf nicht mit dem eines Redacteurs einer Zeitung ver- 
binden, combiniren und so das ganze Jahr für diesen Beruf beschäftigt sind, 
für diejenigen fangen dann die eigentlichen Geschäfle an. Für die Minister 
ist in beiden Fällen die Arbeit gleich schwer, gleich ermüdend und auf- 
reibend, und es ist, glaube ich, nicht nützlich, die Minister zu nöthigen, daß 
sie die Arbeiten mit mehr Gleichgültigkeit machen sollen. Sie würden, wenn 
Sie immer solche Minister gehabt hätten, gar nicht so weit gekommen sein, 
wie wir uns hier bei einander sehen, und es ist nicht nützlich, diese Träger 
der Staatsarbeit auf diese Weise zu ermüden und ihnen die Zeit nicht zu 
lassen. Die ganze Rücksichtslosigkeit gegen diese Menschenclasse liegt auch in 
dem Antrag, daß der Reichstag im October zusammentreten solle. Es ist ja 
ganz klar, daß der Bundesrath in diesen Fällen vier Monate früher zu- 
sammentritt. Ich will sagen, wir können das auf 3 Monate abkürzen, eber 
unter 3 Monaten wird der Bundesrath nicht arbeiten können. Wenn Sie 
also den Reichstag im October hier haben wollen, dann müssen Sie von 
dem Bundesrath verlangen, daß er Ende Juli etwa zusammentritt. Alle 
die Minister, welche noch im Gefechte mit den Landtagen sind, kommen nicht 
her, um sich an dem Bundesrath zu betheiligen. Dann wird der letztere 
etwas, was dem alten Frankfurker Bundestag mehr und mehr ähnlich sein 
wird. Die Hauptsache, daß dieses Centrum der Regierungsautorität im 
  
 
	        
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