216 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 25.)
mung im Bundessrath nur in der Erwägung abgesehen habe, daß das Präsi-
dium den Gedanken des Gesetzes nicht ohne Zuschüsse für ausführbar hielt,
und daß manche Zweige der Industrie Niederdeutschlands die ganze Prämien-
last nach glaubwürdigen Zeugnissen nicht zu tragen vermöchten. Die bayerische
Regierung glaube aber, dessenungeachtet für die Annahme des jetzt be-
schlossenen Entwurfs sich nicht aussprechen zu können, weil es ihr, abgesehen
von manchen erheblichen Bedenken gegen die beschlossenen Modificationen,
wie z. B. die gesetzliche Feststellung der Prämien, unmöglich erscheine, den
Versuch der Durchführung eines so einschneidenden und im Vollzuge so com-
plicirten Gesetzes gegen die Präsidialmacht lediglich auf Grund eines Mehr-
heitsbeschlusses der übrigen Bundesstaaten zu machen, weil sie dafür halte,
daß der dem Gesetze zu Grunde liegende Gedanke nur mit voller Ueberein-
stimmung aller verbündeten Regierungen erfolgreich verwirklicht werden könne,
und weil sie aus den bisherigen Verhandlungen die Ueberzeugung gewonnen
habe, daß die Sache noch nicht zur Durchführung bereift und weitere Ueber-
legung angezeigt sei. Der königl. sächsische Bevollmächtigte bemerkt, daß
nach Ansicht der königl. sächsischen Regierung für den Fall der Wiederauf-
nahme des dem Reichstag vorgelegt gewesenen Gesehentwurfs gleichzeitig eine
Revision des Hilfscassenwesens einzutreten haben werde, um denjenigen Be-
denken zu begegnen, welche aus der im Gesetzentwurf vorgesehenen vier-
wöchigen, bezw. vierzehntägigen, Carezzeit bis zum Beginn der Schadlos-
haltung hergeleitet worden sind. Der großh. sächsische Bevollmächtigte
erklärt, daß seine Regierung den Entwurf, wie er aus dem Reichstage her-
vorgegangen, hauptsächlich wegen der veränderten Organisation der Ver-
sicherung für unannehmbar erachte und voraussetze, es werde bei der Wieder-
aufnahme der Vorlage der Gedanke der Reichsversicherungsanstalt festgehalten
werden. Die Bevollmächtigten für Baden und Reuß ä. L. enthalten sich
der Abstimmung.
Bei der Berathung des Unfallversicherunggesehzes im Reichs-
tage in die Frage der Kosten kaum erwähnt worden gerade hierüber
hat jetzt der sächsische Landtagsabgeordnele Dr. Roth, Mitglied der national-
liberalen Partei, eine Berechnung aufgestellt, die ein sehr merkwürdiges Er-
gebniß liefert. Danach ist im Königreich Sachsen mit seinen rund 430,000
Arbeitern jede siebente Person versicherungspflichtig, in Bayern mit 378,000
Arbeitern jeder vierzehnte, in Preußen mit rund 3 Millionen Arbeitern erst
jeder zwölfte Einwohner. Den duchschnittlichen Arbeitslohn zu 600 ℳ ge-
rechnet, betragen die Gesammtlöne in Sachsen 258 Millionen, in Bayern 227,
in Preußen rund 1800 Millionen Mark. Als Gesammtdurchschnittsprämien
entfielen hienach auf Sachsen 3 Millionen, auf Bayern 2,600,000, auf
Preußen 21 Millionen, im Ganzen also rund 26 Millionen Mark jährlich.
Der Versicherungszuschuß im Betrage von einem Drittel der Gesammtver-
sicherung betrüge demzufolge für Sachsen 1,066,000 ℳ, für Bayern 886,000 ℳ,
für Preußen 6,700,000 ℳ. oder auf den Kopf der Bevölkerung in Sachsen
34 ₰, in Bayern 17 ₰, in Preußen 19 ₰! Diese Ziffern reden eine sehr
verständliche Sprache. Sie erklären es, weßhalb gerade die sächsische Re-
gierung, die sonst gar nicht schüchtern ist in Sachen des Particularismus,
sich so energisch gegen die particularistische Errungenschaft der selbständigen
Landesversicherungsanstalten gewehrt hat; sie erklären ferner, weßhalb Fürst
Bismarck die Reichsanstalt so überraschend schnell aufgab; denn er war
sicher, daß die Bundesstaaten selber, die zum großen Theil in der Lage
Sachsens gewesen wären, sehr bald Anstrengungen gemacht hätten, das ver-
liehene Privilegium odiosum wieder abzuschütteln. Diese Zahlen liefern
aber auch vor allem den Beweis, wie wenig vorbereitet alle gesetzgeberischen
Factoren an die soziale Reform herantraten.