Object: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Nebersicht der pelikischen Enlwichelung des Jahreo 1878. 505 
würden finden lassen, dieselben mit Hilfe der Mächte gegebenen Falls 
auch noch in anderer Weise als durch einen Krieg zu wahren. Die 
beiden vorwiegenden und leitenden Nationalitäten Oesterreichs, die 
Deutschen und die Magyaren waren damit freilich nur halb ein- 
verstanden. Waltet in Deutschland ganz allgemein nichts weniger als 
eine besondere Zuneigung für Rußland und das russische Wesen, 
so herrscht in Oesterreich, abgesehen von den slavischen Bölkerschaften, 
eine entschiedene und lant ausgesprochene Abneigung gegen jene und 
konnten die Ungarn namentlich vielfach nicht begreifen, wie es 
Oesterreich zugeben könne, daß die Türkei ohne irgend eine Hülfe 
von irgend einer Seite dem Angriffe und der Ueberflulhung Ruß- 
lands einfach Preis gegeben werden solle. Doch waren auch die 
Deutschen und Magyaren nicht gerade geneigt, sich, ohne dazu förm- 
lich gepwungen zu sein, in einen Krieg mit Rußland zu stürgen und 
beruhigten sich wenigstens die Ungarn damit, daß ja einer der 
Ihrigen, der Graf Andrassy, an der Spitze der auswärligen An- 
gelegenheiten des Reichs stände, der sich sicher nicht in den russischen 
Netzen habe fangen lassen können. Italien und Frankreich hielten 
zurück: wenn auch beide wichtige Interessen im Orient zu wahren 
hatten, so sahen sie diese vorerst doch nicht unmittelbar von Rußland 
gefährdet und daher keine unmittelbare Veranlassung, ihrerseits ein 
entscheidendes Gewicht in die Wagschale zu werfen. Nicht so da- 
gegen England, dessen Regierung die Schritte Rußlands von allem 
Anfang an mit dem äußersten Mißtrauen beobachlete und entschlossen 
war, wenigstens die Meerengen und Constantinopel unter keinen 
Umständen in die Hände Rußlands fallen zu lassen. Aber auch 
England war zunächst nicht in der Lage, Rußland und seinem 
Unternehmen gegen den fernern Besltand der türkischen Herrschaft 
auf der Vallanhalbinsel mit gewaffneler Hand entgegen zu treten. 
Die Regierung war in sich keineswegs einig, die öffentliche Meinung 
Aufangs entschieden überwiegend gegen einen Krieg und überdieß 
hatte auch in Eugland die Ueberzeugung Platz gegrissen, daß es auf 
die Daner doch nicht möglich sein werde, die Herrschaft der elenden 
türkischen Regierung in ihren europäischen Provingen auf die Dauer 
intact aufrecht zu erhalten. Eine Allianz mit der Türkei bot in 
der That nur eine ziemlich schwache und sehr unsichere Stütze und 
eine solche mit Oesterreich war vorerst ausgeschlossen. So tral auch 
England dem russischen Unternehmen in erster Linie nicht entgegen 
und verharrte um so mehr in einer allerdings ausgesprochener
	        
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