66 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 14.)
schränkungen. Die Position für einen altkatholischen Bischof beantragt das
Zentrum zu streichen oder wenigstens aus dem Kapitel: katholische Geistliche
auszuscheiden. Die Konservativen tuen dem Zentrum den Gefallen, den
letzteren Wunsch zu erfüllen; die Position selbst wird gegen die Stimmen
des Zentrums und der Polen bewilligt. Beim Kapitel „Universitäten"“
greifen Reichensperger und Windthorst nicht ohne Grund die gegenwärtigen
Zustände an den Universitäten an und unterziehen sie einer sehr lebhaften
Kritik, die langen Ferien, das verderbliche Korps- und Duellwesen, das
System bloßer Vorlesungen ohne notwendige Selbsttätigkeit der Studieren-
den, die mangelhaften Examina, die Professorenringe, die unbefriedigende
Stellung der Privatdozenten u. dergl. Noch lebhafter gestaltet sich die De-
batte über einen Erlaß des ostpreußischen Schulinspektors Korsepius in Fried-
land gegen die Anhänger der Fortschrittspartei, den derselbe an die Lehrer
seines Bezirks gleichzeitig mit der königl. Botschaft erließ und in welchem
er von maßloser Agitation derjenigen spricht, welche sich als königstreu be-
zeichnen und es nicht sind, ferner von den frechen Lügen, mit denen man das
Volk zu täuschen suche u. dgl. Kultusminister v. Goßler: Ich erkenne an,
daß einzelne Ausdrücke und Redewendungen in diesem Schreiben hätten ver-
mieden werden können; aber den gesamten Charakter und Geist desselben
billige ich. (Lebhafter Beifall rechts ) Ich ziehe alle Konsequenzen, die sich
daraus ergeben. (Hört, hört! links.) Der Ausgangspunkt der ostpreußischen
Agitation der Fortschrittspartei war der, daß sich diese Partei als eine spe-
zifisch königstreue hingestellt hat, und diesen Mythus, der sich allmählich in
breiten Schichten des Volkes und auch im Lehrerstande breitgemacht, hat der
allerhöchste Erlaß vom 4. Januar zerissen (Große Bewegung linke; Rufe:
Mythus?"). und deshalb war der Kreisschulinspektor sehr wohl berechtigt,
solche retrospektive Betrachtungen anzustellen. Es ist unglaublich, was man
in der Wahlagitation den Lehrern alles zugemutet hat. Wundern sie sich,
wenn solche Dinge eine tiefgehende Bewegung hervorgerufen und auf Grund
des Erlasses Seiner Majestat zum Widerstande dagegen geführt haben, daß
unter falscher Flagge die Agitation geführt wird? ( Murren links, Beifall
rechts.) Virchow (Fortschritt): Die Anfrage hatte nur den Zweck, zu er-
fahren, ob der Minister das Verfahren des Schulinspektors billige, der in
seiner amtlichen Eigenschaft die Lehrer zur Wahlbeeinflussung gegenüber den
Eltern seiner Schüler auffordert. Der Minister hat nun zwar mit einer
kühnen Wendung einzelne Ausdrücke des Erlasses mißbilligt, im ganzen aber
das Vorgehen des Mannes kaum getadelt. Nun geht er aber noch weiter
und spricht davon, daß wir einen Mythus über unsere Treue zu Kaiser und
Reich erfunden hätten. Ich bestreite dem Minister das Recht, daß er sich
in solcher Weise hier über eine Partei äußern darf. (Zustimmung links,
Widerspruch rechts.) In England hat es härtere Kämpfe zwischen den Par-
teien und der Regierung gegeben, und man hat sich dort daran gewöhnt,
eine Opposition Ihrer Majestät anzuerkennen, die von Zeit zu Zeit in die
Regierung kommt, die zeitweise auch konservativ ist. Wir haben nun in
Preußen eine lange Reihe von konservativen Ministerien gehabt; es gibt
aber im Lande eine recht beträchtliche Anzahl von Männern, die der festen
Hoffnung sind, daß das anders werden wird. Müssen wir denn durchaus
königs- und reichsfeindlich sein, weil wir dem gegenwärtigen Ministerium
widerstreben? Wir sind doch Dezennien lang in dem Glauben gewesen, daß
wir in einem konstitutionellen Staate lebten, in dem es nicht als eine Un-
ehrerbietigkeit gegen die Krone gilt, wenn man anderer Meinung ist als das
Ministerium. Nicht wir haben einen Mythus erfunden, sondern die Herren
von der Regierung und ihre Presse haben die Fabel von unserer Reichs-
und Königsfeindlichkeit aufgebracht. In einem amtlichen Aktenstück ist zu-