Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

68 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 16—17.) 
Bezeichnender Weise macht sich in diesem Ausschusse durchweg die 
ausgesprochene Tendenz geltend, die Leistungen der Versicherungskassen mög- 
lichst herabzudrücken. Über das Motiv dazu spricht sich einer der Haupt- 
redner mit möglichster Deutlichkeit dahin aus: Je mehr Spielraum die ein- 
zelnen Kassen hätten, um so mehr Gelegenheit hätten sie, sich gegenseitig 
Konkurrenz zu machen und durch Erhöhung der Leistungen für die kranken 
Arbeiter sich gegenseitig die Arbeiter abspenstig zu machen, was die Interessen 
der Großindustriellen schädigen würde. 
16. März. (Bayern.) II. Kammer: Finanzausschuß: führt 
bei der Vorberatung des Kultusetats nach den Anträgen Rittler's 
eine wahre Razzia gegen die Lehrerbildungsanstalten aus, indem 
nicht weniger als 172.833 Mark für jedes Jahr der zweijährigen Finanz- 
periode gestrichen werden. 
Die Forderungen der Regierung waren fast überall auf dem Stande 
der früheren Bewilligungen gehalten, welche, als das Kultusreferat in den 
Händen des gutkatholischen Domkapikulars Dr. Anton Schmid war, von 
den früheren Kammern ohne weiteren Streit bewilligt worden sind. Sie 
diesmal zu verweigern, war jedoch die Mehrheit des Ausschusses von vorne- 
herein entschlossen, so daß Rittler sich sogar der Mühe überhoben glaubt, 
für seine Abstriche irgend welche Gründe anzuführen. In runder, fest und 
hoch gegriffener Summe wird jeweils ein Abstrich vorgeschlagen, und die 
ultramontane Mehrheit des Ausschusses sieht die Notwendigkeit und Nüt- 
lichkeit davon sofort und ohne Debatte ein. Einem solchen Verhalten gegen- 
über wahren die liberale Minderheit und ebenso die Staatsregierung lediglich 
ihre Würde, indem sie es mit einem Hinweise auf die schweren Einbußen, 
welche das Volks- schullehrerwesen und durch dasselbe die Schulbildung des 
heranwachsenden Geschlechtes erleiden muß, und mit einem Proteste gegen 
diese pflichtwidrige Art, öffentliche Angelegenheiten zu behandeln, bewenden 
lassen. Die Abstriche setzen ganz besonders beim Stipendienwesen ein und 
ergeben folgende Hauptposten. Bei den vollständigen Lehrerbildungsan- 
stalten wurden gestrichen 24.000 Mark, bei den Schullehrerseminarien 52.667 Mark, 
bei den Präparandenschulen 81.900 Mark (indem sie von 101.900 Mark mit 
Einem Schlag auf 20.000 Mark herabgesetzt worden) zusammen 158.567 Mark; 
bei dem Posten der Stipendien für die absolvierten Seminaristen werden 
abgestrichen 8.500 Mark, so daß der Gesamtabstrich bei dem Stipendienwesen 
allein 167.067 Mark beträgt. Offenbar soll ein künstlicher Mangel an weltlichen 
Lehrkräften herbeigeführt werden. Die Anstrengungen, welche seit Ende der 
sechsziger Jahre gemacht wurden, um dem Bedürfnis an Lehrkräften für 
die Volks- schule annähernd zu genügen, namentlich durch Stipendien für an- 
gehende Seminaristen u. s. w., sollen in ihr Gegenteil verkehrt werden, um 
auf diese Weise für Klosterschulen und Lehrschwestern Raum zu machen. 
Der Staatsminister v. Lutz erklärt denn auch geradezu, daß durch diese Be- 
schlüsse die Axt an das ganze Volksschullehrerbildungswesen gelegt werde. 
17. März. (Preußen.) Abg.-Haus: die Regierung legt 
demselben ein neues Verwendungsgesetz bez. der „in Folge weiterer 
Reichssteuerreformen an Preußen zu überweisenden Geldsummen“ 
nebst Motiven vor: 
Der neue Verwendungsgesetzentwurf lautet: § 1. Nach Vor- 
schrift dieses Gesetzes sind zu verwenden: 1) Die dem preußisichen Staate 
aus dem Ertrage der Zölle und der Tabaksteuer jährlich zu überweisenden
	        
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