Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

96 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 2.) 
ehrenwerter Mann. (Heiterkeit.) Erwägt man, welche Opfer die Konser- 
vativen beim Kompromiß gebracht haben, so drängt sich die Überzeugung 
auf, daß die Anträge entweder vom Zentrum oder für das Zentrum for- 
muliert seien. Jeder zurückberufene Bischof wird einen Triumph der Kirche 
über den Staat feiern, und derartige Ereignisse müssen unserem National- 
gefühl bittere Niederlagen bereiten. Das Kompromiß ist in Wahrheit eine 
Unterwerfung des Staats unter die Kirche, das stolze Staatsschiff Preußen 
streicht seine Fahnen vor dem Vatikan. 
2. Mai. (Preußen.) Abg.-Haus: Erste Lesung der Ver- 
wendungsgesetz-Vorlage. Der Antrag der Konservativen, sie an 
eine Kommission zu verweisen, wird mit großer Mehrheit abgelehnt 
und die 2. Lesung im Plenum beschlossen. 
Der Beschluß zielt offenbar dahin, die Vorlage möglichst kurzer Hand 
abzulehnen. Nicht wenig trägt dazu der Wunsch bei, die Session je eher je 
lieber zu schließen und so jedes weitere Tagen des Landtags neben dem 
Reichs- tag zu vermeiden. Die Regierung verlangt dagegen, daß nicht nur 
Verwendungs- gesetz, sondern auch noch die hannoversche Kreisordnung 
beraten werde, was namentlich Windthorst gar nicht paßt. Die Frage 
führt daher am Schlusse der Sitzung zu einer sehr gereizten Debatte mit 
dem Minister von Puttkamer. 
2. Mai. (Baden.) Das Domkapitel wählt den greisen 
Domdekan und Weihbischof Dr. Orbin einstimmig zum Erzbischof 
von Freiburg für die oberrheinische Kirchenprovinz, die auch Mainz, 
Rottenburg, Limburg und Fulda umfaßt. Der Gewählte ist der 
Regierung durchaus persona grata. 
Die Wahl macht einem unerquicklichen Zustande ein Ende und be- 
nimmt der ultramontanen Partei den letzten Vorwand zu ihrer feindseligen 
Haltung gegen die Regierung. Der Gewählte ist nach allen Versicherungen 
ein Mann, dessen Persönlichkeit geeignet erscheint, ein vollständig friedvolles 
Verhältnis zwischen Regierung und Kurie herbeizuführen und zu erhalten, 
zumal die gegenseitige Gereiztheit der Kulturkampfzeit bei Regierung, Volk 
und Kurie einem lebhaften Friedensbedürfnis gewichen ist. Als im Jahre 
1868 nach dem Tode des frühern Erzbischofs Vicari die Kurie der Regierung 
die Vorschlagsliste einreichte, stand Kettler von Mainz als der erste, Dr. 
Orbin als der letzte auf derselben. Die Regierung strich damals alle Namen 
bis auf den des Dr. Orbin als minder genehm. Darauf verbot der Papst 
dem Domkapitel die Aufstellung einer neuen Liste und auch ein späterer 
Versuch der Regierung, die Besetzung des erzbischöflichen Stuhles zu er- 
möglichen, hatte keinen Erfolg. In der Tatsache, daß jetzt Orbin und zwar 
einstimmig gewählt worden ist, liegt nun der Beweis, daß auch die Kurie 
mit sich handeln läßt, wenn man auch zugeben muß, daß inzwischen die 
Regierung auf Manches verzichtet hat, was sich trennend zwischen beide Ge- 
walten stellte. Die ultramontane Partei gibt sich freilich noch nicht zur 
Ruhe und hofft, den 76jährigen Greis als willenloses Werkzeug leiten zu 
können, wie schon früher den Erzbischof v. Vicari trotz seiner entschieden 
milden Gesinnung. Doch darin irrt sie sich. Ihrem von Rom aus durch 
einen eigenen Abgesandten unterstützten Versuch, dem neuen Erzbischof den 
ultramontanen Domkapitular Knecht als Weihbischof aufzuzwingen und als 
Wächter an die Seite zu setzen, tritt derselbe mit der entschiedenen Erklärung
	        
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