Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 3—4.) 97 
entgegen, er wolle weder einen Roadjutor noch einen Weihbischof und werde 
sich keine Willkür gefallen lassen. 
3. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: die 12 Sozialisten 
bringen, unterstützt von 3 Mitgliedern der Fortschrittspartei, den 
Antrag wegen Aufhebung sämtlicher Ausnahmsgesetze wieder ein. 
Als solche werden ausgeführt: das Jesuitengesetz von 1872, das Ex- 
patriierungs- und Internierungsgesetz von 1874, das Sozialistengesetz von 
1878, der Kanzelparagraph im Strafgesetzbuch und der Diktaturparagraph 
für Elsaß-Lothringen. Bemerkenswert ist, daß die Sozialdemokraten das 
Internierungsgesetz von 1874 wieder in ihren Antrag ausgenommen haben, 
obgleich nach dem Antrage Windthorst die Aufhebung dieses Gesetzes vom 
Reichstage bereits zum Beschluß erhoben worden ist. Derselbe befindet sich 
noch unerledigt im Bundesratsausschusse für Justizwesen. Offenbar haben 
die Sozialdemokraten dieses Gesetz nicht ohne Absicht wieder in ihren Ent- 
wurf aufgenommen, in der Hoffnung, das Zentrum an ihren Antrag zu 
fesseln. In der vorigen Session blieb der sozialdemokratische Antrag un- 
erledigt 
4. Mai. (Preußen.) Abg.-Haus: genehmigt das neue 
kirchenpolitische Gesetz unverändert nach dem Beschlusse des Herren- 
hauses gegen die Stimmen der Liberalen. 
In der Debatte unterzieht Göttling noch einmal die Vorlage, 
welche die Zerbröckelung der Maigesetze einleite, einer schneidenden Kritik, 
zeigt, wie weit bereits die Demütigung des Staates vor der Rurie gekommen 
sei, und schließt mit einem warmen Aufruf, die Segnungen der Reformation, 
die Rechte des Protestantismus und des Staates aufrecht zu halten. Windt- 
horst erwiedert, solche kulturkämpferische Ausführungen seien heute nicht 
mehr zeitgemäß. Die vom Herrenhause vorgenommenen Abänderungen be- 
dauere das Zentrum, wolle sie aber im Interesse des Friedens annehmen. 
Kultusminister v. Goßler verteidigt sich gegen den Vorwurf, die Rechte 
des Staats beeinträchtigt und in der kirchenpolitischen Frage die Zügel aus 
der Hand verloren zu haben. Graf Limburg-Styrum scheint die dem 
kirchenpolitischen Kompromiß zu Grunde liegende Berechnung anzudeuten, 
indem er die Hoffnung ausspricht, daß das Zentrum mit den Konservativen 
vereinigt die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Zeit lösen werde. 
Das Urteil der liberalen Presse geht sehr scharf dahin: „In diesem Gesetz 
nach dem Kompromiß zwischen der konservativen Partei und dem ultramon- 
tanen Zentrum hat die preußische Regierung eine entschiedene Frontverän- 
derung gemacht, indem sie sich nicht mehr aus den Standpunkt der Maige- 
setze stellt: „Ich nehme, damit du gibst!““, auch nicht mehr auf den Stand- 
punkt der letzten zwei Jahre: „Ich gebe, wenn du gibst!“, sondern auf 
den neuen: „Ich gebe, damit du gibst:“ 
Wortlaut des Gesetzes: „Art. 1. Die Art. 2, 3 und 4 im 
Gesetze vom 14. Juli 1880 treten mit der Verkündung des gegenwärtigen 
Gesetzes auf die Zeit bis zum 1. April 1884 wieder in Kraft. Art. 2. hat 
der König einen Bischof, gegen welchen auf Grund der §§ 24 ff. des Ge- 
setzes vom 12. Mai 1873 durch gerichtliches Urteil auf Entlassung aus 
seinem Amte erkannt ist, begnadigt, so gilt derselbe wieder als staatlich an- 
erkannter Bischof seiner Diözese. In sonstigen Fällen, in welchen auf Grund 
der §§. 24 ff. des Gesetzes vom 12. Mai 1873 oder des § 12 des Gesetzes 
vom 22. April 1875 auf Entlassung aus dem Amte erkannt ist, werden die 
Folgen der ergangenen Erkenntnisse auf die Unfähigkeit zur Bekleidung des 
Schulthess Europ. Geschichtskalender. XXIII. Bd. 7
	        
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