106 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 2.)
die Regierungspolitik nicht an übergroßer Klarheit leidet. Es ist wahrlich
nicht unsere Schuld, wenn Herrn v. Goßler die Möglichkeit vorgehalten
wird, daß er unter Umständen einem Falk den Platz einzuräumen hätte,
und ebensowenig fällt uns die Verantwortung dafür zu, wenn die Wirt-
schaftspolitik der Regierung so wenig waschecht erscheint, daß man sie sogar
bis zur Harmonie mit den liberalen Interessen abblassen zu können glaubt.
Alsbald nach den Wahlen haben wir die Alternative aufgestellt: Entweder
eine entschlossene christlich-konservative Politik unter Heranziehung aller anti-
liberalen Kräfte oder Triumph des Liberalismus! Sollten wir wirklich
noch eine liberale Periode durchzumachen haben, nun wohl, dann wäre es
besser, wir fingen gleich damit an und ließen die Dinge im Geschwindschritt
herankommen, damit das Ende um so schneller da ist. Denn erschrecken kann
uns eine derartige Aussicht nicht, so lange wir noch die Kraft in uns
fühlen, eine ordentliche Krisis überdauern zu können.“
2. Juni. (Württemberg.) II. Kammer: Karl Mayer
(Demokr.) interpelliert die Regierung mit Rücksicht auf die bevor-
stehenden Erneuerungswahlen der Kammer über eine Verfassungs-
reform in demokratischem Sinne.
Die Interpellation hebt besonders folgende Punkte hervor: Ein-
kammersystem, Beseitigung der Privilegierten aus der Kammer und Aus-
schluß der Staatsbeamten aus derselben. Die zwei ersten Forderungen habe
auch schon Hölder, der jetzige Minister des Innern, zu wiederholten Malen
und in hervorragender Weise vertreten. Das Einkammmersystem sei in der
Natur des allgemeinen Wahlrechtes, zumal in einer Monarchie, wo die Re-
gierung ohnedies das konservative Element in der Gesetzgebung vertrete, be-
gründet; das jetzige sei in Württemberg nicht durch historische Verhältnisse ge-
geben, sondern erst in der Verfassung von 1819 eingeführt worden und stets
sei dem Volke die Adelskammer etwas Fremdes geblieben, wie sie auch viel-
fach als Hemmschuh in der Entwicklung des württembergischen Verfassungs-
lebens gewirkt. Endlich sei bei der neuen staatsrechtlichen Stellung Würt-
tembergs eine möglichste Vereinfachung des gesetzgeberischen Apparates durch-
aus angezeigt. Die Vertretung von Geistlichkeit und Ritterschaft, so wenig
er denselben zu nahe treten wolle, sei ebenfalls eine durchaus mittelalter-
liche, unserer Zeit nicht mehr angemessene Institution. Beamte endlich als
Abgeordnete, d. h. als zur Verteidigung der Volksrechte gegen die Regierung
berufen, der sie doch selbst angehören, sei ein Widerspruch, der schon in der
verfassunggebenden Versammlung von 1819 von dem Prälaten Abel und
dem Fürsten Hohenlohe-Kirchberg hervorgehoben worden, wie denn damals
die Wählbarkeit der Beamten nur mit 56 gegen 53 Stimmen angenommen
worden sei. In Kürze berührt er noch als weitere Punkte: Herabsetzung
des Wählbarkeitsalters, Verkürzung der Wahlperioden, Recht der selbstän-
digen Enquete, Recht der Kontrolle über die Tätigkeit der Regierung im
Bundesrat, das ihm ganz der bisherigen Stellung des ständischen Aus-
schusses zu entsprechen scheine, und schließt mit der Versicherung, daß es ihm
nur darum zu tun sei, Klarheit über die Stellung der Volkspartei zu der
Angelegenheit zu geben und über die Stellung der Regierung zu erlangen.
Wenn er sich auch nicht verhehle, daß noch manches Jahr bis zur Verwirk-
lichung des ganzen Programmes hingehen werde, so hoffe er doch, daß der
langwierige Prozeß, der um die württembergische Verfassungsrevision seit
Jahren schon schwebe, zum Besten des württembergischen Volkes werde zu
Ende geführt werden. Die Regierung kommt durch den Ministerpräfi-