108 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 11.)
11 Juni. (Deutsches Reich u. Preußen.) Hr. v. Ben-
nigsen, der Führer der nationalliberalen Partei im Reiche und in
Preußen, hält auf einem Parteitage in Hannover eine Programmrede,
in der er sich sowohl über die allg. deutschen als über die speziell
preußischen Zustände einlaßlich ausspricht. Bez. Preußens verkennt er
zwar nicht eine gewisse Reaktion auf den Gebieten der Kirche und der
Schule, hält aber die Gefahr für so groß nicht. „Von der Mehrheit im
preußischen Abgeordnetenhause hatte man viel erwartet; es ist aber nichts
zu Stande gekommen, weil es die Herren nicht verstanden. Wenn sie wäh-
rend den Jahren, in denen sie die Mehrheit hatten, um in einer anderen
Richtung tätig zu sein, nichts aufrichteten, so haben sie auch nichts wirklich
zerstört, was wir mit Mühe aufgebaut haben. Es bleibt festgewurzelt. So
stark ist die Macht nicht, auch die Wurzeln auszureißen. Es ist noch nicht
so weit gekommen! Noch hängen alle Interessen der Schule zusammen. Der
kirchliche Einfluß ist allerdings ein sehr großer: aber doch hat der Einfluß
nicht ausgereicht, um die, selbst ziemlich weitgehenden, kirchlichen Tendenzen
der höchsten Portefeuille-Inhaber zum vollen Ausdruck zu bringen. Im
wesentlichen ist doch das deutsche Schulwesen noch nicht umgestaltet gegen
früher. Nun begnügen wir uns aber nicht mit der Abwehr. Wir wollen
auch hier durchsetzen, daß wieder das, was an gesunden Kräften, was an
Leben spendendem Elementen vorhanden ist, für die Kirche und die Schule
tätig werde.“ Für das Reich macht er auf die Bestrebungen des ultra-
montanen Zentrums, das mit Welfen, Polen und Elsässern den vierten Teil
des Reichstags ausmache, aufmerksam und fährt dann fort: „Früher war
die Sachlage die, daß bis 1878/79 eine sehr große gemäßigte, liberale Partei
als ausschlaggebend vorhanden war. Das ist leider anders geworden, von
dem Augenblicke an, da, wie Sie wissen, der Reichskanzler das Herau-
drängen der Tendenzen- und Interessenten- Vertretungen duldete und die
Wirtschafts-, Steuer- und politischen Fragen in deren Sinne angriff. Die
Mehrheit rekrutiert sich zunächst aus dem Zentrum mit den Anhängseln.
Ein erheblicher Teil der Konservativen leistet Beistand. Eine ganz geringe
Anzahl der Liberalen, von welchen aber nur eine ganz verschwindende Zahl
wieder gewählt ist, glaubte, sich anschließen zu sollen. Meine Herren!
Wohin es geführt hat mit der Regierung, die von einer solchen Mehrheit
in der Verwaltung und in der Gesetzgebung sich führen ließ, das haben wir
gesehen. Verwirrung und Unsicherheit herrscht auf allen Gebieten. Das
Unnatürliche einer solchen Grundlage für die Weiterentwicklung liegt auf
der Hand. Es wäre der erste Fall, so lange man eine Geschichte kennt —
daß mit solchen Tendenzen Ersprießliches geschaffen würde! Ist doch der
mächtige Mann mit allem dem, was er seit 3 Jahren unternommen hat,
nicht vorwärts gekommen, sondern hat vielfach entscheidende Niederlagen er-
litten, und nur die große Machtstellung des Kanzlers ließen solche Nieder-
lagen ertragen! Es ist dahin gekommmen, daß der Reichskanzler sich nach
anderen Stützen umsieht. Aber das nützt nichts, wenn die früher mit ihm
schaffende Partei durch die Verhältnisse und durch die Regierung selbst aus
der Mehrheit verdrängt ist. Da dürfen wir die Oppositionsgruppe nicht
verlassen, mit der unsere Partei so Wesentliches geleistet hat. Wir müssen
aber vor allem sorgen, daß in die Sachlage Klarheit komme. Besser, als
sie jetzt vorhanden ist! Die Position der politischen Reaktion hat erwiesen,
daß für die Weitergestaltung unseres öffentlichen Zustandes noch viel zu
tun ist. So können ja auch die Zustände auf die Dauer nicht bleiben.
Es wird eine wieder einlenkende, schaffende Tätigkeit, wie sie vor zehn
Jahren, von 1867 bis 1870, gewesen ist, verlangt! Dazu ist vor allen