Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12.—15.) 113
Sie haben dann ihrerseits kein Bedürfnis mehr und haben noch weniger
Neigung als heute, die Regierung in ihren Reformbestrebungen zu unter-
stützen. Die Regierung aber hält an dem Prinzip fest: „gleiche Gerechtig-
keit für Alle“ und ist entschlossen, Privilegien in dieser Beziehung nicht zu
geben. Daß die großen Städte ihrerseits, weil sie in noch höherem Maße
als die Kreise und Landgemeinden eigentliche Staatslasten übernommen haben,
bei einer Verteilung und bei einer Zuwendung von Erträgen indirekter
Steuern, die wir vom Reich erstreben, stärker bedacht werden müssen. als die
gleiche Kopfanzahl der sonstigen Bevöllerung, daß sie mit dem, was für sie
in Aussicht genommen ist, Zuweisung der halben Gebäude- und Grundsteuer,
nicht auskommen, ist ganz klar; es ist aber dann Sache der Prüfung und
Bewilligung in den Verhandlungen des Landtags, wie der Hauptsache nach
die Verteilung von Mitteln, sobald wir deren haben, stattfinden soll. Wir
sind nicht bereit, einzelnen Klassen unserer Mitbürger vor Anderen ein Pri-
vilegium zu geben, sondern die Erleichterung gleichmäßig zu schaffen für
Alle. Die Kreise find in derselben Lage und bei ihnen ist die Ungerechtig-
keit des Zuschlages zu der Steuer, die ohne Rücksicht auf die Verschuldung
der besteuerten Einnahmegquelle auferlegt ist, allerdings in höherem Maße
auf die Grundsteuer anwendbar, wie sie es auf die Häusersteuer ist.
Nun sind die Herren in den großen Städten gewöhnlich der Meinung. daß
die Grundsteuer hauptsächlich den reichen Grundbesitzer treffe, der ihnen un-
angenehm auffällt, wenn er selbstzufrieden und wohlgenährt in die Stadt
kommt, sich bei Borchardt oder sonstwo sehen läßt. Das ist aber entfernt
nicht der Fall, und aus jedem statistischen Buche können Sie sich dahin be-
lehren, daß die Gesamtheit der Gutsbesitzer, die noch lange nicht lauter
reiche Leute sind, sondern vielfach arme, da auch dem kleinsten Besitze an-
gehörige Zensiten zu den Gutsbezirken gehören, von den 42 Millionen
Grundsteuer, die im ganzen bezahlt werden, nur 8 Millionen tragen, 28
Millionen auf den Kleinbesitz, auf die Landgemeinden fallen, und der Über-
rest auf die Städte. Wenn Sie also geneigt sind, über den Gutsbesitzer
eine gewisse Ungerechtigkeit zu verhängen, weil er Ihrer Meinung nach eine
üble Persönlichkeit ist, - so treffen Sie mit demselben Schlag, mit dem
Sie einen Gutsbesitzer treffen, immer wahrscheinlich fünf arme Leute. Die
Kreise, wie Sie aus den statistischen Listen ersehen, sind fast alle verschuldet
und meist mit starken Kreisbudgets belastet. Auch diesen hat Se. Maj.
der König von Preußen das Bedürfnis zu helfen, und Er steht hilfesuchend
vor der Pforte des Reichstags und klopft an, ob Sie Ihm beistehen wollen,
seine preußischen Unterthanen aus den ungerecht und drückend veranlagten
Steuern zu befreien. — Ein dritter Punkt ist die Schule, deren Belastung
auch in der Regel nicht nach ihrem vollen Werte gekannt wird. Aus den
sehr lehrreichen Motiven, die der preußische Landtag nicht Zeit hatte zu ver-
lesen und zu beraten, geht unter Anderem hervor, daß die Schullasten in
ihrer Gesamtheit für Personal- und Realausgaben zwischen 94 und 95 Mil-
lionen betragen, und daß sie die Belastung des Staates durch die Klassen-
steuer mehr als doppelt übersteigen, indem in Preußen auf den Kopf 3,59 Mark
an Schullasten kommen und wahrscheinlich auch in demselben Bruchteil von
Exekutionen, namentlich für diejenigen Lasten, die unter dem Namen von
Schulgeld exigibel sind, von den ärmsten Mitgliedern der Gemeinde, und
immer in erhöhterem Maße von kinderreichen Familien als von kinderlosen
oder einkinderigen, und wie es dabei für die Stellung des Lehrers eine be-
trübende Beziehung gibt, daß der Lehrer, der in Bezug auf Kleidung und
Lebensstand doch gegenüber dem barfüßigen Schuljungen eine höhere Lebens-
stufe einnimmt, die Mutter durch die Kinder mahnen lassen muß wegen
weniger Groschen Schulgeld. Schon im Interesse der Lehrer haben wir in
Schulthess, Europ. Geschichtskalender. XXIII. Bd. 8