118 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 1215.)
freie Hand zu bekommen und es hängt ja von jeder Regierung ab, welche
Wahl, wenn sie überhaupt dazu kommt, sie darin treffen will. Es wird in
diese Verlegenheit immer nur eine Parteiregierung kommen. Wir, eine un-
parteiische, von jedem Partikularismus freie, wie die bisherige Reichsregie-
rung, können in diese Lage nicht qut kommen; die deutschen Großen, die die
Reichseinheit unter Heinrich IV. in Frage stellten, die niedersächsischen Par-
tikularisten von damals, diese Großen gefährden die Reichseinheit nicht mehr.
Wir haben statt ihrer die Zersetzung in 25 souveräne Staaten, deren Grenzen
wiederum durchschnitten sind von den viel tiefer einschneidenden Grenzen
von 8 bis 10 Fraktionen, so daß wir zu 200 bis 250 Partikeln des deut-
schen Reichs kommen, und der Partikularismus der Dynastien und der Re-
gierungen ist sehr rückgängig geworden. Sie werden das ja auch in Ihren
Fraktionen fühlen, daß er bei den Abgeordneten viel lebendiger geworden
ist in letzterer Zeit. — Diesem Fraktionspartikularismus befindet sich nun
die Reichsregierung mit ihren Einheitsbestrebungen gegenüber, und ich habe
das Gefühl uns durch die Fraktionen überhaupt dilatorisch behandelt zu
sehen; es gibt da viele Leute, die denken: „Zeit gewonnen, alles gewonnen,
interim fit aliquid, und dann wird alles anders, und dann mit dem Hochdruck
der Macht der Neuwahlen, dann werden wir eine große Partei schaffen.“
Es ist ja alles möglich, ich kann in die Zukunft nicht sehen. Meine Mit-
wirkung kann dazu nicht in Aussicht genommen werden, und ich bin über-
haupt nicht mehr in der Lage, viel zu wirken auf dieser Welt, und ich
habe das Gefühl, daß keiner dieser Regierung irgend einen Erfolg noch
gönnt; man meint: warum sollen wir die noch befestigen in ihrer Existenz,
wie lange kann die überhaupt noch dauern, dann fängt unser Reich an!
Nun, ich will es abwarten, aber es würde Ihnen das auch gar nicht helfen
wenn irgend eine Partei, eine Fraktion zur Regierung käme. Einmal,
ist in Dentschland und in Preußen keine stark genug, um die Regierung zu
führen und auch nicht, wenn sie alle Unterstützung hätte, die sie dabei nur
wünschen könnte; dann ist weder Deutschland noch Preußen von dem Partei-
standpunkt überhaupt zu regieren, das liegt in unseren Fraktionsverhält-
nissen, und die Fraktions- krankheit ist ja eine, an der das konstitutionelle
Prinzip überhaupt in allen Ländern schwer leidet und in manchen zu Grunde
gehen kann. Die Fraktion ist etwas, was sich ja als eine große Bequem-
lichkeit des politischen Verkehrs für jeden neu eintretenden Abgeordneten er-
weist. Wer sich nicht berufen fühlt, der großen Gesamtheit des Reiches per-
sönlich gegenüber zu treten, der findet eine ansprechende Vermittelung in
dem Eintritt in eine Fraktion. Er hat vielleicht nicht das politische Kapital
in sich, um sich hinreichende Geltung zu verschaffen ohne eine solche Ver-
mittelung, aber er hat immer genug Kapital, um für die Aktiengesellschaft,
die politische Gründung, die eine Partei in sich bildet, einen Einschuß und
eine Mitwirkung zu leisten. Er wartet auf seine politische Dividende und
hat außerdem eine große Bequemlichkeit, er braucht sich keine eigene Meinung
zu bilden, er kriegt sie fertig geliefert von der Majorität, und wenn er zu
Hause diskutiert, so braucht er sich nicht zu rechtfertigen, er kann sagen:
die Majorität unserer Freunde war dafür und die Fraktionstaktik hat es
notwendig gemacht, so zu handeln. Stat pro ratione numerus! Die Fraktion
hat sich entschieden, die sachliche Seite ist vollständig gleichgiltig. Auf
der anderen Seite liegt in dem Fraktionswesen eine große Schädigung unserer
politischen Leistungsfähigkeit. Ich glaube, daß unsere politisch begabten
Männer, unsere Staatsmänner, durch die Fraktion, durch das Fraktions-
leben dem Staatsleben entzogen und entfremdet werden. Ich habe den Ein-
druck, daß in unserem heutigen politischen Leben überhaupt der Satz gilt:
„Fraktion geht vor Reich“, „das Aktienunternehmen geht vor der Allgemeinheit".