Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12—15.) 135
heiten desselben mit Sicherheit wird rechnen können. Das haben schon die
Beratungen der letzten Wochen ergeben. Ich erinnere namentlich an die
Beratung der Kommission über das Krankenkassengesetz, wo die Möglichkeit
keineswegs ausgeschlossen ist, daß noch in diesem Jahre ein solches Gesetz
zum Abschluß oder wenigstens demselben ganz nahe gebracht wird. — Nun
sage ich, wenn die Sachen so sind, obwohl allerdings bei vielen wichtigen
Aufgaben der Kanzler seit einigen Jahren durch übergroße, ihm entgegen-
stehende Schwierigkeiten sich gehemmt sieht — weshalb soll man dann die
Dinge in Deutschland und seine politische Zukunft so gallig und schwarz
ansehen, wie wir das dieser Tage in längeren Ausführungen und einzelnen
Aussprüchen des Reichskanzlers gehört haben? M. H.H., das ist allerdings
das Schicksal großer historischer Persönlichkeiten, denen es gestattet ist, um-
wälzend und aufbauend Bahnen vorzuzeichnen den Völkern, welchen sie an-
gehören, daß ebensolche Tätigleit nur möglich ist durch eine ungewöhnliche
Kraft des Willens, durch eine ungewöhnliche Gewalt des Geistes, durch einen
seltenen, das regelmäßige Maß weit übersteigenden Feuereifer in der Ver-
folgung der Ziele, welche man sich gesteckt hat. Nur Menschen von solcher
historischen Bedeutung sind im Stande, solche Ziele sich zu stecken, wie sie
der Reichskanzler und ähnliche große Figuren der menschlichen Geichichte sich
gestellt haben. Und, m. H.H., sie sind allein im Stande, mit den von mir
gekennzeichneten Eigenschaften solche Ziele auch wirklich zu erreichen. Aber,
m. H.H., es liegt einmal in dem ganzen menschlichen Dasein, daß niemand
vollständig glücklich sein kann weder in seinem äußeren Schicksal, noch in
der Beschaffenheit seines Wesens und seines Innern. An der tragischen
Schuld des menschlichen Daseins nehmen alle, große und kleine, ihren An-
teil und den größten Anteil gerade diejenigen. welche die Führer der Völker
sind, und welche die seltene Kraft ihres Geistes und das ungewöhnliche Maß
ihres Willens ,befähigt in die Geschicke der Völker historisch bestimmend ein-
zugreifen. — M. H.H., das Feuer, welches erforderlich war, um so großes
zu schaffen, der nachhaltige Wille, der dazu nötig war, die geistige Kraft,
die Bestrebungen zu erfassen und energisch durchzuführen, zehren auch an
dem Innern solcher Männer selbst. Und wenn es ihnen wiederholt gelingt,
große Hindernisse zu besiegen, wenn sie daran die Anspannung aller ihrer
Kräfte setzen müssen, dann ist es fast natürlich, daß dieselben Männer auch
das verzehrende innere Feuer stärker ergreist, wo sie nun einmal auf Hinder-
nisse nach jahrelangen unaus- gesetzten Erfolgen stoßen, die sie nicht zu über-
winden vermögen. M. H.H., das ist ein tragisches Schicksal, mit dem man
Mitgefühl haben soll, und was man historisch begreifen kann in dem Leben
solcher Männer, — und wenn also der Herr Reichskanzler nach so gewaltigen
Erfolgen angelangt ist an einer Stelle, wo er sich beklagt, daß man jahre-
lang ihn in seinen besten Absichten im Stiche gelassen habe, daß sich Hinder-
nisse aufgetürmt hätten, seine wohltätigsten Pläne für unser Volk durchzu-
führen, so sage ich: ja, ein Mann, der gewohnt ist, Hindernisse zu überwinden,
schätzt vielleicht auch einmal unrichtig den inneren Gehalt seiner Projekte
und die Natur der Hindernisse. Er ist geneigt, die Pläne, die er nun mit
solchem gewaltigen Willen durchführen will, für gereister und in sich abge-
schlossener zu halten, als wirklich die mitlebende Menschheit anerkennt, und
er erblickt in den sich entgegenstellenden Hindernissen persönliche Gegensätze
und üblen Willen, wo doch die Schwierigkeiten in den Verhältnissen selbst
liegen und in der Erkenntnis der übrigen Mitlebenden, die sich, wie in diesem
Falle, von der Richtigkeit und Zuverlässigkeit des Erfolgs der geplanten
großen finanzpolitischen Maßregeln nicht haben überzeugen können. Aus
solchen Vorgängen darf der Kanzler, wenn er die großen Erfolge der Ver-
gangenheit und diesen ersten erheblichen Mißerfolg auf einem einzelnen, dem