Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12—15.) 135 
heiten desselben mit Sicherheit wird rechnen können. Das haben schon die 
Beratungen der letzten Wochen ergeben. Ich erinnere namentlich an die 
Beratung der Kommission über das Krankenkassengesetz, wo die Möglichkeit 
keineswegs ausgeschlossen ist, daß noch in diesem Jahre ein solches Gesetz 
zum Abschluß oder wenigstens demselben ganz nahe gebracht wird. — Nun 
sage ich, wenn die Sachen so sind, obwohl allerdings bei vielen wichtigen 
Aufgaben der Kanzler seit einigen Jahren durch übergroße, ihm entgegen- 
stehende Schwierigkeiten sich gehemmt sieht —  weshalb soll man dann die 
Dinge in Deutschland und seine politische Zukunft so gallig und schwarz 
ansehen, wie wir das dieser Tage in längeren Ausführungen und einzelnen 
Aussprüchen des Reichskanzlers gehört haben? M. H.H., das ist allerdings 
das Schicksal großer historischer Persönlichkeiten, denen es gestattet ist, um- 
wälzend und aufbauend Bahnen vorzuzeichnen den Völkern, welchen sie an- 
gehören, daß ebensolche Tätigleit nur möglich ist durch eine ungewöhnliche 
Kraft des Willens, durch eine ungewöhnliche Gewalt des Geistes, durch einen 
seltenen, das regelmäßige Maß weit übersteigenden Feuereifer in der Ver- 
folgung der Ziele, welche man sich gesteckt hat. Nur Menschen von solcher 
historischen Bedeutung sind im Stande, solche Ziele sich zu stecken, wie sie 
der Reichskanzler und ähnliche große Figuren der menschlichen Geichichte sich 
gestellt haben. Und, m. H.H., sie sind allein im Stande, mit den von mir 
gekennzeichneten Eigenschaften solche Ziele auch wirklich zu erreichen. Aber, 
m. H.H., es liegt einmal in dem ganzen menschlichen Dasein, daß niemand 
vollständig glücklich sein kann weder in seinem äußeren Schicksal, noch in 
der Beschaffenheit seines Wesens und seines Innern. An der tragischen 
Schuld des menschlichen Daseins nehmen alle, große und kleine, ihren An- 
teil und den größten Anteil gerade diejenigen. welche die Führer der Völker 
sind, und welche die seltene Kraft ihres Geistes und das ungewöhnliche Maß 
ihres Willens ,befähigt in die Geschicke der Völker historisch bestimmend ein- 
zugreifen. — M. H.H., das Feuer, welches erforderlich war, um so großes 
zu schaffen, der nachhaltige Wille, der dazu nötig war, die geistige Kraft, 
die Bestrebungen zu erfassen und energisch durchzuführen, zehren auch an 
dem Innern solcher Männer selbst. Und wenn es ihnen wiederholt gelingt, 
große Hindernisse zu besiegen, wenn sie daran die Anspannung aller ihrer 
Kräfte setzen müssen, dann ist es fast natürlich, daß dieselben Männer auch 
das verzehrende innere Feuer stärker ergreist, wo sie nun einmal auf Hinder- 
nisse nach jahrelangen unaus- gesetzten Erfolgen stoßen, die sie nicht zu über- 
winden vermögen. M. H.H., das ist ein tragisches Schicksal, mit dem man 
Mitgefühl haben soll, und was man historisch begreifen kann in dem Leben 
solcher Männer, — und wenn also der Herr Reichskanzler nach so gewaltigen 
Erfolgen angelangt ist an einer Stelle, wo er sich beklagt, daß man jahre- 
lang ihn in seinen besten Absichten im Stiche gelassen habe, daß sich Hinder- 
nisse aufgetürmt hätten, seine wohltätigsten Pläne für unser Volk durchzu- 
führen, so sage ich: ja, ein Mann, der gewohnt ist, Hindernisse zu überwinden, 
schätzt vielleicht auch einmal unrichtig den inneren Gehalt seiner Projekte 
und die Natur der Hindernisse. Er ist geneigt, die Pläne, die er nun mit 
solchem gewaltigen Willen durchführen will, für gereister und in sich abge- 
schlossener zu halten, als wirklich die mitlebende Menschheit anerkennt, und 
er erblickt in den sich entgegenstellenden Hindernissen persönliche Gegensätze 
und üblen Willen, wo doch die Schwierigkeiten in den Verhältnissen selbst 
liegen und in der Erkenntnis der übrigen Mitlebenden, die sich, wie in diesem 
Falle, von der Richtigkeit und Zuverlässigkeit des Erfolgs  der geplanten 
großen finanzpolitischen Maßregeln nicht haben überzeugen können. Aus 
solchen Vorgängen darf der Kanzler, wenn er die großen Erfolge der Ver- 
gangenheit und diesen ersten erheblichen Mißerfolg auf einem einzelnen, dem
	        
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