136 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12—15.)
finanzpolitischen Gebiete, vergleicht, nicht irre werden an dem Geiste seiner
Nation und an der Zuverlässigkeit und Sicherheit der Institutionen, die die
Nation und ihre Vertretung mit ihm zusammen geschaffen haben. Der
Herr Reichskanzler mag sich in einzelnen Stunden die politische Zukunft
unseres Vaterlandes noch so unsicher und schwarz ausmalen, — auf diesem
Wege werden die Vertreter Deutschlands und das deutsche Volk ihm nicht
folgen. Nein, m. H.H., das deutsche Volk gibt die Hoffnung auf seine Zu-
kunft nicht auf, wenn augenblicklich sich auch ungewohnte Schwierigkeiten
für seine weitere politische Entwickelung auftürmen, und das deutsche Volk
verzweifelt nicht an der richtigen Grundlage der Institutionen, welche in
den Jahren 1867 und 1871 im Reiche geschaffen sind, unter wesentlichem
Eingreifen des Fürsten Reichskanzlers, aber auch unter freudiger Zustim-
mung und Mitwirkung der deutschen Nation. — Nein, m. H.H., was da-
mals geschaffen worden, so künstlich und kunstvoll es erscheint, so wenig es
irgend einem Beispiel anderer Völker oder einer politischen Schule voll-
kommen entspricht, es hat sich doch bereits im Laufe der Jahre im großen
und ganzen für das deutsche Reich als einzig zutreffend und heilsam be-
währt. Ich meine, diese Verbindung des monarchischen Gedankens mit par-
lamentarischen Institutionen und diese Ausgleichung der einheitlichen Idee
mit der föderativen, wie wir sie in der Grundlage unserer Reichsverfassung
haben, diese so verknüpften Elemente sind aber auch wesentlich für den Fort-
bestand nicht nur unserer Verfassung, sondern auch für die Gewähr einer
ruhigen und gedeihlichen politischen Entwicklung in Deutschland. Brechen
Sie einen Teil dieser Elemente, die so kunstvoll und sorgsam zusammenge-
fügt sind, heraus, dann eröffnen Sie die Bahn für Umwälzungen aller Art
von Steuern, wie wir sie in Deutschland und in anderen Ländern zur Ge-
nüge kennen gelernt haben. Ich halte es deshalb für ein gefährliches Be-
ginnen, wenn man auch nur an die Möglichteit denkt, daß die parlamen-
tarischen und konstitutionellen Formen auf die Dauer ihren Dienst versagen,
daß die Parlamente in Marasmus und überwucherndes Parteiwesen ver-
sinken, daß das deutsche Volk und seine Staatsmänner gezwungen werden,
auf alte, abgestorbene absolutistische Formen zurückzukommen. Auf die
Schwierigkeiten, die mit der parlamentarischen Verfassung, mit der konstitu-
tionellen Verfassung verbunden sind, hat der Herr Reichskanzler in seiner
Rede unter Bezugnahme auf andere Länder hingewiesen. Diese Schwierig-
keiten haben sich der Natur der Sache nach auch bei uns herausgestellt.
Aber wenn man nur an die erfolgreiche Tätigkeit im Reiche seit 1867
denkt und Deutschland in Vergleich bringt mit den Anläufen ähnlicher Er-
folge oder mit den Mißerfolgen in jener Zeit in den übrigen europäischen
Ländern, so brauchen wir nicht beschämt vor anderen Völkern zu stehen; im
Gegenteil, die großen Umwälzungen, die unter Führung des Reichskanzlers
das deutsche Volk vorgenommen hat in einer kurzen Spanne Zeit, sind in
einer Weise gelungen auf dem Gebiete der Verfassung und fast der ganzen
Gesetzgebung, wie es ohne Beispiel in der ganzen menschlichen Geschichte ist.
Unter solchen Umständen nach kurzen Mißerfolgen in einem einzelnen Ge-
biet auch nur auf die Möglichkeit hinzuweisen, auf den alten Bundestag
und die absolutistische Verfassung zurückzukommen, dazu ist gewiß eine Ver-
anlassung nicht vorhanden. Mögen die konstitutionellen Schwierigkeiten in
Deutschland und dem Westen von Europa noch so groß sein, — mit den
Zuständen des absolutistischen Rußlands werden wir nicht tauschen und mit
den Gefahren, welche der Regierung und dem Volke dort bevorstehen. Und
was die Dinge in Deutschland anlangt, den alten Bundestag und die Er-
setzung desselben durch die jetzige Reichsverfassung - ja, m. H.H., der Herr
Reichskanzler hat gewiß mit vollem Rechte darauf hingewiesen, daß die