Da deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 12—15.) 137
deutschen Dynastien, also auch die Dynastien der mittleren und kleineren
Staaten, welche bekanntlich der deutschen Einigung im bundesstaatlichen
Sinne oft genug widerstrebt hatten, daß sie jetzt patriotisch-national genug
sind, sich auf diesem Boden zurecht gefunden zu haben, und daß er in ihnen
eine Stütze für die Reichsverfassung gefunden hat. Aber wenn jemals die
Zeit kommen sollte, wo auf diese Stütze allein die deutsche Verfassung und
die politische Zukunft Deutschlands gestellt werden müßte, sie würde sich
weder breit noch fest geung erweisen. — Nein, die jetzigen Verfassungen, sie
verlangen — zumal solche monarchisch komplizierte Verfassungen mit konstitu-
tionellen Einrichtungen sie verlangen vor allem ein lebendiges und ein-
trächtiges Zusammenwirken von Dynastien und Volk und seinen Vertretern,
und wo zu irgend einer Zeit einer dieser Teile versagen sollte — villleicht
geht die Nation selbst nicht daran zu Grunde, aber der bisherige Zu-
stand und die bisherige Entwicklung in einer abgeschlossenen historischen
Verfassung würde ihr Ende erreicht haben und Umwälzungen unabseh-
barer Art würden eine lange Reihe von Jahren gebrauchen, um an die
Stelle des Aufgelösten wieder etwas dauerndes Neues zu setzen. Nein
wenn die deutschen Dynastien jetzt die Reichsverfassung, wie sie ist, vertei-
digen wollen, gewiß wird ihnen dann das Volk zur Seite stehen: aber wenn
jemals die Möglichkeit käme, daß mit Hilfe der deutschen Dynastien an die
Stelle der jetzigen Verfassung und der jetzigen konstikutionellen Einrichtungen
mit Beseitigung des Parlaments etwas anderes gesetzt würde, dann ist die
Bahn frei für jede Revolution, dann ist durch den Vorgang revolutionärer
Arbeit von oben die Bahn legitimiert und frei für jedes mögliche umwäl-
zende Experiment von unten. Das Große und Schöne unserer deutschen
Entwicklung, das hat darin bestanden, daß nach der Arbeit — der ver-
geblichen — einzelner Patrioten, ganzer Generationen in zwei Menschen-
altern, endlich Fürsten und Völker sich zusammengefunden haben, wenn
auch nicht ohne den schweren Durchgang eines Bürgerkrieges. Meine H.H.,
es ist vollkommen richtig, was der Herr Reichskanzler gesagt hat, alle diese
Vorbereitungen für die deutsche Einheit von einzelnen Patrioten und poli-
tischen Vereinen und die ganze 48er Bewegung waren nicht im stande, das
deutsche Reich zu schaffen. — nein, dazu war ein kräftiger Wille, dazu war
die Aufwendung der Machtmittel eines großen Staates erforderlich, um das
siegreich durchgeführt zu haben. Das hat mit Recht der Herr Reichskanzler
für sich als seine historische Aufgabe und Leistung in Anspruch genommen,
daß er den richtigen Moment erfaßte, daß er es gewagt und unternommen
hat, daß er seinen König dafür zu stimmen verstanden hat als leitender
und verantwortlicher Staatsmann, und daß dann dieses große Werk, das
durch Menschenalter vorbereitet war, endlich zum Durchbruch und Abschluß
gekommen ist. M. H.H., ich habe sonst wohl den Herrn Reichskanzler
billiger urteilen hören, und er hat gewiß schon vielfach billiger gedacht über
die Vorbereitungen zu der Umwälzung von 1867 und 1871. Gewiß ist es
vollkommen richtig: die Burschenschaften, politischen Vereine und Verbrü-
derungen, die einzelnen aufopferungsvollen Patrioten, alle, die sich bemüht
haben, den Gedanken der deutschen Einheit in diesem Jahrhundert zum Aus-
druck zu bringen, in den Gemütern wach zu erhalten und für die Durch-
führung vorzubereiten, sind weit entfernt, für sich in ihrem Innern oder
historisch das Verdienst in Anspruch zu nehmen, daß gerade sie es gewesen
sind, welche die Umgestaltung Deutschlands herbeigeführt haben. Aber ich
will das Bild einmal umdrehen: niemals wäre der Fürst Reichskanzler,
und ich sage auch, niemals wäre die Monarchie Preußen im stande gewesen,
dieses Verfassungswerk von 1867 und 1871 im Kampfe gegen Österreich und
Europa zum Abschluß zu bringen, wenn das, was wir jetzt an einheitlicher