Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

144 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 5.) 
hinter der ultramontanen Partei stehe eine große kirchlich-politische Macht, 
während die evangelische Gegenpartei fast gar keine politische Stütze habe. 
Aber nicht allein auf den jetzt namhaft gemachten Gebieten, sondern überall 
rege sich das Bewußtsein der Gefahr einer ultramontan-konservativen Koa- 
lition, und es sei  deshalb notwendig, daß die liberale Partei mehr als 
früher einer agitierenden Tätigkeit sich befleißige. Die Gegensätze unter denen, 
welche jener Koalition kämpfend gegenübertreten müßten, seien nicht so groß, wie 
man sich denke. Es handle sich mehr um die Methode der politischen Praxis, als 
um die Sache. Die extremen Richtungen drängten immer den Buchstaben ihres 
Parteiprogramms in den Vordergrund; die Nationalliberalen dagegen seien 
stets mehr darauf bedacht, das Wesen der Sache dem praktischen Leben an- 
zupassen, unter Umständen einen Teil der Schale zu opfern, um den Kern 
zu erhalten. Dann habe die nationalliberale Partei auch niemals danach 
gestrebt, daß ihr Programm ausschließlich zur Geltung komme, sie habe 
vielmehr von jeher geglaubt, auch den anderen Parteien Rechnung tragen 
zu müssen; um auf diese Weise ihre im Interesse des gemeinsamen Vater- 
landes gelegenen Bestrebungen betätigen zu können, sei nun freilich ein 
Entgegenkommen von Seite der befreundeten Nachbargruppen unerläßlich 
Im großen und ganzen möge und dürfe die nationalliberale Partei 
auf ihre Vergangenheit stolz sein, denn ihre Ideen seien es, die von dem 
erhabenen Geschlechte der Hohenzollern erfaßt und von unserem großen 
Kanzler zur Wirklichkeit gemacht worden seien. Und gerade die große 
Sicherheit des Reiches nach außen hin, die wir den Leistungen des Kanzlers 
und unserer Militärmacht verdanken, müßte uns ein Sporn sein, auch für 
eine Ausgleichung der inneren Gegensätze zu sorgen. Dies sei nur möglich 
durch ein tatkräftiges Eingreifen der gemäßigten und versöhnenden Par- 
teien etc. 
5. Juli. (Deutsches Reich.) Bundesrat: lehnt den vom 
Reichstag vom 12. Januar mit 233 (kons., ultram. u. fortschr.) 
gegen 115 (nat.-lib., freikonserv. u. sezess.) Stimmen gefaßten Be- 
schluß bez. Aufhebung des Reichsgesetzes vom 4. Mai 1874 über 
Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern (den 
sog. Antrag Windthorst) ab — nur Bayern und Reuß ä. L. stim- 
men dafür — und vertagt sich bis zum 15. Oktober. Die ultra- 
montane Partei ist darüber und über die Nichtausführung des 
neuen kirchenpolitischen Gesetzes in Preußen sehr unzufrieden, und 
ihr Hauptorgan, die „Germania“, führt eine geradezu drohende 
Sprache. 
Von den neuen kirchenpolitischen Gesetzen führt die preußische Re- 
gierung nur die Bestimmungen bez. der Examen in einem dieselbe regelnden 
Erlaß des Kultusministers v. Goßler aus. Aber das genügt den Ultramon- 
bei Weitem nicht. Durch die Verfügung bleibt die Bestimmung des § 15 
des Gesetzes vom 11. Mai 1873, betreffend die den kirchlichen Oberen ob- 
liegende Pflicht der Benennung der anzustellenden Kandidaten, völlig unbe- 
rührt. Damit ist der Nachweis geführt, daß trotz des Art. 3 des neuen 
Maigesetzes die Ausfüllung der Lücken in dem Seelsorgerpersonal nach wie 
vor davon abhängt, daß entweder der Staat aufs die Anzeigepflicht oder die 
Kurie auf ihre Bedenken gegen die Erfüllung dieser Pflicht verzichtet. Die 
Kurie scheint dazu wenig geneigt zu sein. Die Ungeduld im ultramontanen
	        
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