144 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juli 5.)
hinter der ultramontanen Partei stehe eine große kirchlich-politische Macht,
während die evangelische Gegenpartei fast gar keine politische Stütze habe.
Aber nicht allein auf den jetzt namhaft gemachten Gebieten, sondern überall
rege sich das Bewußtsein der Gefahr einer ultramontan-konservativen Koa-
lition, und es sei deshalb notwendig, daß die liberale Partei mehr als
früher einer agitierenden Tätigkeit sich befleißige. Die Gegensätze unter denen,
welche jener Koalition kämpfend gegenübertreten müßten, seien nicht so groß, wie
man sich denke. Es handle sich mehr um die Methode der politischen Praxis, als
um die Sache. Die extremen Richtungen drängten immer den Buchstaben ihres
Parteiprogramms in den Vordergrund; die Nationalliberalen dagegen seien
stets mehr darauf bedacht, das Wesen der Sache dem praktischen Leben an-
zupassen, unter Umständen einen Teil der Schale zu opfern, um den Kern
zu erhalten. Dann habe die nationalliberale Partei auch niemals danach
gestrebt, daß ihr Programm ausschließlich zur Geltung komme, sie habe
vielmehr von jeher geglaubt, auch den anderen Parteien Rechnung tragen
zu müssen; um auf diese Weise ihre im Interesse des gemeinsamen Vater-
landes gelegenen Bestrebungen betätigen zu können, sei nun freilich ein
Entgegenkommen von Seite der befreundeten Nachbargruppen unerläßlich
Im großen und ganzen möge und dürfe die nationalliberale Partei
auf ihre Vergangenheit stolz sein, denn ihre Ideen seien es, die von dem
erhabenen Geschlechte der Hohenzollern erfaßt und von unserem großen
Kanzler zur Wirklichkeit gemacht worden seien. Und gerade die große
Sicherheit des Reiches nach außen hin, die wir den Leistungen des Kanzlers
und unserer Militärmacht verdanken, müßte uns ein Sporn sein, auch für
eine Ausgleichung der inneren Gegensätze zu sorgen. Dies sei nur möglich
durch ein tatkräftiges Eingreifen der gemäßigten und versöhnenden Par-
teien etc.
5. Juli. (Deutsches Reich.) Bundesrat: lehnt den vom
Reichstag vom 12. Januar mit 233 (kons., ultram. u. fortschr.)
gegen 115 (nat.-lib., freikonserv. u. sezess.) Stimmen gefaßten Be-
schluß bez. Aufhebung des Reichsgesetzes vom 4. Mai 1874 über
Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenämtern (den
sog. Antrag Windthorst) ab — nur Bayern und Reuß ä. L. stim-
men dafür — und vertagt sich bis zum 15. Oktober. Die ultra-
montane Partei ist darüber und über die Nichtausführung des
neuen kirchenpolitischen Gesetzes in Preußen sehr unzufrieden, und
ihr Hauptorgan, die „Germania“, führt eine geradezu drohende
Sprache.
Von den neuen kirchenpolitischen Gesetzen führt die preußische Re-
gierung nur die Bestimmungen bez. der Examen in einem dieselbe regelnden
Erlaß des Kultusministers v. Goßler aus. Aber das genügt den Ultramon-
bei Weitem nicht. Durch die Verfügung bleibt die Bestimmung des § 15
des Gesetzes vom 11. Mai 1873, betreffend die den kirchlichen Oberen ob-
liegende Pflicht der Benennung der anzustellenden Kandidaten, völlig unbe-
rührt. Damit ist der Nachweis geführt, daß trotz des Art. 3 des neuen
Maigesetzes die Ausfüllung der Lücken in dem Seelsorgerpersonal nach wie
vor davon abhängt, daß entweder der Staat aufs die Anzeigepflicht oder die
Kurie auf ihre Bedenken gegen die Erfüllung dieser Pflicht verzichtet. Die
Kurie scheint dazu wenig geneigt zu sein. Die Ungeduld im ultramontanen