Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

201 das deutsche Reich und seine eiztelnen Glieder. (Mitte Nov.) 
die Steuersätze stiegen auf von 3 bis 15 Mark. Die Steuerbefreiung wird mehr 
als 4 Millionen Steuerträgern zugute kommen, während die gesamte Zahl 
der den verschiedenen Formen der Einkommen- und Klassensteuer unter- 
worfenen Steuerpflichtigen bisher im Ganzen ca. 5 Millionen betrug. Die 
Steuerbefreiung wird einem steuerbaren Einkommen von 2.374 Mill. Mark 
zugewendet, während das ganze einkommensteuerpflichtige Einkommen rund 
4½ Milliarden Mark beträgt. Der Staat verzichtet damit auf eine Steuer- 
Einnahme von mehr als 20 Millionen Mark. 
15. November. (Mecklenburg.) Der gemeinsame Landtag 
der beiden Großherzogtümer tritt in dem kleinen Landstädtchen 
Malchin wieder zusammen. Die Vorlagen und die zu fassenden 
Beschlüsse desselben betreffen größtenteils Eisenbahnangelegenheiten 
und zwar diesmal in ungewöhnlichem Umfange. 
Im Übrigen ist der Landtag — eine wahre Antiquität in 
dem politischen Leben und Treiben Deutschlands. Die großherzoglichen 
Kommissarien mit ihrem Gefolge von Hoffourieren, Hofköchen, Kellermeistern 
und Lakaien haben sich aus Schwerin und Neustrelitz bereits nach Malchin 
begeben. Zu den Absonderlichkeiten dieser mecklenburgischen  Landtage, bei 
denen noch möglichst mittelalterliche Gebräuche beibehalten werden, gehört 
nämlich wesentlich, daß die Kommissarien der beiden Großherzöge von Mecklen- 
burg-Schwerin und Stretzlitz, zu denen gewöhnlich Staatsräte oder andere 
höhere Beamte auserwählt werden, dort auf Kosten der großherzoglichen 
Kasse ein offenes Haus machen und jeden Mittag große Galatafel halten. 
Alle adeligen Rittergutsbesiter, wenn sie ihre scharlachrote Ritterschafts- 
uniform, die kein bürgerlicher  Gutsbesitzer tragen darf,  anziehen, und hin 
und wieder auch die als Beamte fest angestellten Bürgermeister der meisten 
Städte als Mitglieder der sogenannten „Landschaft" — die blühende Han- 
delsstadt Wismar, die drittgrößte Stadt der beiden Großherzogtümer, darf 
den Landtag nicht beschicken — sind, sobald sie ihre Staats- besuche gemacht 
haben, fast tägliche Gäste an diesen Tafeln der Kommissarien. Für manche 
adelige Gutsbesitzer besteht hierin ein Hauptreiz, den Landtag recht früh mit 
ihrer Gegenwart zu beehren. Von der schon oft ver- und besprochenen Um- 
änderung der jetzigen mittelalterlichen Feudalverfassung, die 1755 ihre letzte 
Revision erhielt, ist es jetzt wieder stiller als still. Treten nicht außer- 
gewöhnliche Ereignisse ein oder nimmt nicht der Reichstag sich endlich der 
Sache an und verhilft der mecklenburgischen Bevölkerung zu ihrem guten 
Rechte, so wird niemand, und erreichte er auch Methusalems Alter, es er- 
leben, daß Mecklenburg in die Reihe der konstitutionellen Staaten eintritt. 
Mitte November. (Bayern.) In den seit einiger Zeit ver- 
sammelten Landräten der Kreise des Königreichs macht sich eine 
ausgesprochene Schulreaktion geltend, fast in allen zunächst gegen 
die weitere Ausbreitung und gegen die vor einigen Jahren be- 
schlossene Vermehrung der Klassen der Realschulen, in denjenigen, 
in welchen die ultramontane Partei über die Majorität verfügt, 
wie namentlich im Landrate von Oberbayern, gegen alles Schul- 
wesen überhaupt, das nicht den Stempel „katholischer“ Einrichtung 
trägt. Der im Landtag gescheiterte Ansturm gegen den modernen 
Staat erscheint jetzt als in die Landräte verlegt.
	        
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