201 das deutsche Reich und seine eiztelnen Glieder. (Mitte Nov.)
die Steuersätze stiegen auf von 3 bis 15 Mark. Die Steuerbefreiung wird mehr
als 4 Millionen Steuerträgern zugute kommen, während die gesamte Zahl
der den verschiedenen Formen der Einkommen- und Klassensteuer unter-
worfenen Steuerpflichtigen bisher im Ganzen ca. 5 Millionen betrug. Die
Steuerbefreiung wird einem steuerbaren Einkommen von 2.374 Mill. Mark
zugewendet, während das ganze einkommensteuerpflichtige Einkommen rund
4½ Milliarden Mark beträgt. Der Staat verzichtet damit auf eine Steuer-
Einnahme von mehr als 20 Millionen Mark.
15. November. (Mecklenburg.) Der gemeinsame Landtag
der beiden Großherzogtümer tritt in dem kleinen Landstädtchen
Malchin wieder zusammen. Die Vorlagen und die zu fassenden
Beschlüsse desselben betreffen größtenteils Eisenbahnangelegenheiten
und zwar diesmal in ungewöhnlichem Umfange.
Im Übrigen ist der Landtag — eine wahre Antiquität in
dem politischen Leben und Treiben Deutschlands. Die großherzoglichen
Kommissarien mit ihrem Gefolge von Hoffourieren, Hofköchen, Kellermeistern
und Lakaien haben sich aus Schwerin und Neustrelitz bereits nach Malchin
begeben. Zu den Absonderlichkeiten dieser mecklenburgischen Landtage, bei
denen noch möglichst mittelalterliche Gebräuche beibehalten werden, gehört
nämlich wesentlich, daß die Kommissarien der beiden Großherzöge von Mecklen-
burg-Schwerin und Stretzlitz, zu denen gewöhnlich Staatsräte oder andere
höhere Beamte auserwählt werden, dort auf Kosten der großherzoglichen
Kasse ein offenes Haus machen und jeden Mittag große Galatafel halten.
Alle adeligen Rittergutsbesiter, wenn sie ihre scharlachrote Ritterschafts-
uniform, die kein bürgerlicher Gutsbesitzer tragen darf, anziehen, und hin
und wieder auch die als Beamte fest angestellten Bürgermeister der meisten
Städte als Mitglieder der sogenannten „Landschaft" — die blühende Han-
delsstadt Wismar, die drittgrößte Stadt der beiden Großherzogtümer, darf
den Landtag nicht beschicken — sind, sobald sie ihre Staats- besuche gemacht
haben, fast tägliche Gäste an diesen Tafeln der Kommissarien. Für manche
adelige Gutsbesitzer besteht hierin ein Hauptreiz, den Landtag recht früh mit
ihrer Gegenwart zu beehren. Von der schon oft ver- und besprochenen Um-
änderung der jetzigen mittelalterlichen Feudalverfassung, die 1755 ihre letzte
Revision erhielt, ist es jetzt wieder stiller als still. Treten nicht außer-
gewöhnliche Ereignisse ein oder nimmt nicht der Reichstag sich endlich der
Sache an und verhilft der mecklenburgischen Bevölkerung zu ihrem guten
Rechte, so wird niemand, und erreichte er auch Methusalems Alter, es er-
leben, daß Mecklenburg in die Reihe der konstitutionellen Staaten eintritt.
Mitte November. (Bayern.) In den seit einiger Zeit ver-
sammelten Landräten der Kreise des Königreichs macht sich eine
ausgesprochene Schulreaktion geltend, fast in allen zunächst gegen
die weitere Ausbreitung und gegen die vor einigen Jahren be-
schlossene Vermehrung der Klassen der Realschulen, in denjenigen,
in welchen die ultramontane Partei über die Majorität verfügt,
wie namentlich im Landrate von Oberbayern, gegen alles Schul-
wesen überhaupt, das nicht den Stempel „katholischer“ Einrichtung
trägt. Der im Landtag gescheiterte Ansturm gegen den modernen
Staat erscheint jetzt als in die Landräte verlegt.