Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 8-9.) 7
die Prediger freilich stehen in diesem geistigen Ringen voran, aber sie sind
ohne die Gemeindeglieder hinter sich gleich den Thermopylenkämpfern; die
Geschichte berichtet. daß sie erschlagen sind einer nach dem anderen. Und
auf der anderen Seite: der Gemeinde Sache ist es, ob die Heils- gedanken und
das Heilsleben, das religiöse und sittliche Leben in der oder jener Form ein
Recht hat in der Kirche . Es handelt sich gar nicht zunächst um eine ver-
schiedene wissenschaftliche Auffassung. Sondern das Gewissen ist in Be-
wegung. Wenn es nun in uns ruft: Ich kann nicht anders glauben und
reden, ich kann nicht anders: wie dann? Es könnte uns zugerufen werden:
Daun tritt freiwillig ab. Aber wenn nun die Gewißheit sich aufdrängt:
Das ist das reinere Christentum, das lautere Evangelium in seiner Einfach-
heit, wie es aus Christi Mund gekommen, mag man sich dann von der
Kanzel weisen und nur als Christen zweiten Ranges betrachten lassen? Um
solche Gewissensfragen handelt es sich... Die Mitglieder der kirchlichen
Behörden haben wohl nach ihrer gewissenhaften Überzeugung geurteilt, aber
Gewissen gegen Gewissen. Und solch’ ein Urteil über die Glaubensrich-
tung sollte gar nicht, in den Händen einer kirchenregimentlichen Behörde allein
liegen. Die theologische Wissenschafl, zunächst durch die theologischen Fakul-
täten vertreten, sollte auch gefragt werden. Das ist nicht geschehen. Die
Gemeinde, die eigene Gemeinde des Predigers sollte doch in einem solchen
Falle gefragt werden, oder vielmehr in allererster Linie zu entscheiden haben.
Formell ist unser Konsistorium im Recht, aber das Recht muß auf gesetz-
lichem Wege geändert werden.“
8. Januar. (Deutsches Reich.) Die Fertigstellung des
vom Kaiser schon in der Thronrede vom 17. November v. J. an-
gekündigten Gesetzentwurfs über das Tabakmonopol steht nach der
„Nordd. Allg. Ztg.“ nunmehr nahe bevor.
Der zu diesem Behuf aus Straßburg nach Berlin berufene Unter-
staatssekretär v. Mayr kehrt wieder dahin zurück. Die „N. A. Z.“ bemerkt
dazu: „Von den Reichstagsverhandlungen in der Frühjahrssession wird es
abhängen, ob das volle oder nur das Nohtabat-Monopol eingeführt wird.
Wenn keine von beiden Monopolformen Annahme findet, beabsichtigt die
Regierung die Erhöhung der jetzigen Gewichtssteuer zu beantragen, um aus
ihr und der projektierten Besteuerung der Getränke die Mittel zur Auf-
hebung der Klassensteuer und Überweisung der Grundsteuer an die Kom-
munalverbände zu beschaffen." Von der Auffassung des Ertrags des Mono-
pols im Betrag von ca. 150 Mill. Mark als „Patrimonium der Enterbten“
ist keine Rede mehr. Zur Zeit der Reichstags- wahlen scheint aber diese Idee
an maßgebender Stelle allerdings gewaltet zu haben. Prof. Ad. Wagner
erklärt später (Mitte Okt.) in einem Vortrage in Berlin, eine Zeitung habe
in einem Artikel zu beweisen gesucht, daß die von ihm (Wagner) damals
öffentlich ausgesprochenen Sätze über das „Patrimonium der Enterbten“ und
die Reformpläne der Regierung gar nicht Gedanken des Reichskanzlers ge-
wesen seien. Dem gegenüber erkläre er hiermit öffentlich und vertrete es
mit seinem Ehrenwort, daß Alles, was er in dieser Beziehung geäußert,
nicht nur seine, sondern auch die Gedanken des Fürsten Bismarck gewesen.
Er sei bereit, dies schwarz auf weiß zu beweisen.
9. Januar. (Deutsches Reich.) Wie italienische Blätter
wissen wollen, erklärt der Leiter des deutschen ausw. Amtes dem
Vertreter Italiens in Berlin,