Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

8 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 9—10.) 
daß die in letzter Zeit (s. 1881 Deutschland 15. Nov. und Italien 
Ende Dez.) aufgetauchten Gerüchte betr. eine angebliche Initiative der deut- 
schen Regierung, um eine Änderung der Stellung des Papsttumes an- 
zuregen, nur auf den sanguinischen Hoffnungen der kirchlichen Kreise basiere, 
und daß die deutsche Regierung absolut Nichts zur Beglaubigung und Be- 
kräfligung dieser Gerüchte beigetragen habe. Die gegenwärtig zwischen der 
preußischen Regierung und dem Vatikan schwebenden Unterhandlungen be- 
zögen sich einzig und allein auf innere, die preußische Gesetzgebung betreffende 
Fragen, die mit der Stellung des Papsttums Italien gegenüber nichts zu 
tun hätten. 
9— 10. Januar. (Deutsches Reich.) Reichstag: Inter- 
pellation des (ultram.) Abg. Frhr. v. Hertling betr. weitere Aus- 
bildung der Fabrikgesetzgebung und Antwort des Reichskanzlers, 
woran sich eine Diskussion schließt. 
Der Interpellant wünscht namentlich Beseitigung der Sonntags- 
arbeit, weilere Einschränkung der Frauenarbeit, Verhinderung einer über- 
mäßigen Ausdehnung der Arbeitszeit für erwachsene männliche Arbeiter und 
endlich spezielle Vorschriften über die in den gewerblichen Anlagen vorzu- 
nehmenden Schutzmaßregeln, so wie Erweiterung der Befugnisse der mit der 
Fabrikinspektion beauftragten Beamten. Der Reichskanzler erklärt in 
seiner Anwort die Anregung für eine teils unnötige teils verfrühte und 
fährt dann fort nach den stenographischen Verhandlungen: „Die Ziele, welche 
der kaiserlichen Politik vorschweben, sind durch die kaiserliche Botschaft ge- 
kennzeichnet. Es handelt sich nun aber um die Wege, auf welchen sie zu 
erreichen sind, und die Wahl dieser Wege ist gleich wichtig, wie die Fest- 
legung des Zieles überhaupt, denn jeder Weg kann ein richtiger Weg sein, 
er kann auch ein Irrweg sein. Ich muß sagen: ich selbst bin meiner Über- 
zeugung über die Wahl der Wege — über die Ziele bin ich mir ganz klar 
— aber der Wahl der Wege bin ich so unbedingt sicher nicht, daß ich 
Ihnen 2 mit Bestimmtheit amtliche Andeutungen über Das machen 
könnte, was ich hoffe etwa im Monat April 1883 dem Reichstage vorlegen 
zu können auf diesem Gebiete. Ich bin teils noch nicht mit mir darüber 
einig, teils nicht mehr in dem Maße, wie ich es früher war. Noch nicht, 
weil ich der Belehrung bedarf. . . Und wenn ich ferner sagte, ich bin nicht 
mehr so fest in meinen Überzeugungen, wie ich war, so habe ich eine Ur- 
sache davon schon erwähnt, die, daß ich mich übergeugt habe, daß die kor- 
porative Organisation, die wir in der früheren Unfallversicherungs- 
vorlage nur fakultativ ermöglicht hatten, zwangsweise eingeführt wer- 
den muß. Ich glaube, es gibt keinen andern Weg, welcher zu praktischen 
Erfolgen zu führen verspricht. Eine andere Einwirkung, die mich einiger- 
maßen irre gemacht hat in meinem Glauben an Erfolg, liegt im Ausfall 
der Wahlen. Ich kann mich der Tatsache nicht verschließen, daß gerade 
in den industriellen und Arbeiterkreisen vorzugsweise Gegner der Regierung 
gewählt worden sind, nicht überall, aber doch vorwiegend, nach der Majoriät. 
Ich muß also daraus schließen, daß die Arbeiter im Ganzen mit den ihnen 
doch kaum unbekannten Intentionen der gesetzgebenden Initiative nicht ein- 
verstanden sind (Rufe links: sehr wahr!), daß die Arbeiter also von den 
Herren, die eben „sehr wahr!“ rufen, von den Herren, -welche die freie Kon- 
kurrenz aller Kräfte, des Schwachen wie des Starken in allen Beziehungen 
vertreten, also von den Herren des Freihandels, des Gehenlassens, des 
laisser faire, mit einem Worte: von der fortschrittlichen und sezessionistischen 
Politik mehr erwarten, als von den Reformversuchen der Regierung. Das
	        
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