Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 11.- 12.) 11 
In der Debatte hebt der Abg. Hobrecht (nat.-lib.) die Bedeutung 
und Tragweite des Antrags Windthorst folgendermaßen hervor: „das Gesetz 
ist in der ersten Zeit nach seiner Emanation zwar vielfach angewendet wor- 
den, die Anwendung hat aber rasch nachgelassen, und aus den letzten Jahren 
liegt von einer solchen gar kein Beispiel vor. Wenn wir daher jetzt in eine 
erneute Erörterung des Gesetzes treten, wenn wir es in diesem Augenblick 
aufzuheben beschließen ohne den Antrieb, den uns besondere tatsächliche 
Übelstände als Ausflüsse jenes Gesetzes geben können, dann hat diese Be- 
schlußfassung die notwendige Voraussetzung, daß wir ihr eine Prüfung der 
preußischen kirchenpolitischen Gesetze zu Grunde legen müßten, und es würde 
die Annahme dieses Antrags eine prinzipielle Verurteilung 
der ganzen bisherigen preußischen Kirchenpolitik enthalten. 
Diese prinzipielle Bedeutung einer Annahme des Antrags wird geschärft, wenn 
man die augenblicklichen Verhältnisse ins Auge faßt. Wir wissen lange, 
und es ist auch von den Verteidigern der Vorlage hervorgehoben worden, 
daß die preußische Regierung in diesem Augenblicke und schon seit Jahren 
bemüht ist, die Schärfen des Konflikts zu mildern. Wir wissen, daß sie in 
Unlerhandlungen steht. um Mittel und Wege zu finden, ein friedlicheres 
Verhältniß zwischen Kirche und Staat herbeizuführen. Wir wissen, daß in 
wenigen Tagen der preußische. Landtag eröffnet wird, und wir wissen, daß 
eine seiner Hauptaufgaben sein wird, die kirchenpolitischen Fragen in der 
Form eines neuen kirchenpolitischen Gesetzentwurfes in Beratung zu ziehen 
und darüber Beschluß zu fassen. Wenn in diesem Augenblick von hier aus 
das Gesetz vom Jahre 1874 angegriffen, wenn es aufgehoben wird, so 
greifen wir damit tatsächlich in einer Weise der Erledigung dieser Frage 
im preußischen Landtage vor, greifen hinein in die innere Gesetz- 
gebung des preußischen Staates in einem Maße, wie es noch 
nicht geschehen ist.“ Die Nat.-Lib. werden nach der Erklärung Hobrechts 
also gegen den Antrag Windthorst stimmen. Aber auch ein Teil der Frei- 
konservativen und ebenso Hänel vom Fortschritt und Forckenbeck von den 
Secessionisten sind gegen denselben. Immerhin wirken auch bei diesen die 
vom Abg. Birchow dargelegten Motive bis auf einen gewissen Grad, wenn 
er sagt: „Wir haben die Empfindung, daß die Regierung uns Liberale in 
eine Stellung brachte, daß alles Odium des Kulturkampfes auf uns ruht, 
während wir doch der Regierung nur folgten. Die diskretionären Gewalten, 
die Polizeigewalt, hat man beliebig ausgebeutet, jetzt sollen wir die Ver- 
antwortung dafür tragen, während sich die Regierung aus dem Staube macht. 
Man kann es uns nicht verdenken, wenn wir uns dieser Verantwortlichkeit 
entziehen wollen. Wir wollen nicht der Prügelknabe der Regierung sein. 
Wir sind nicht die Mähre, die der Reichskanzler regelmäßig reiten kann.“ 
Dieses Gefühl regt sich mehr oder minder auf der ganzen Linken, und wenn 
die Regierung neuerdings „diskretionäre Gewalten“ verlangt, so wird die 
Linke wahrscheinlich sagen oder wäre wenigstens berechtigt zu sagen: Gesetze, 
deren regelrechte Anwendung man nicht mehr nötig findet und nicht will, 
die sollen auch nicht bestehen bleiben; darin gehen wir mit dem Zentrum, 
wenn der Kanzler nicht für die ordentliche Aufrechthaltung mit uns gehen 
will. Viel weiter geht dagegen der Abg Eng. Nichter (Fortschr.), dem 
die Zustimmung zum Antrage Windthorst nur ein Mittel zu einem viel 
weiteren Zwecke, der Bekämpfung des Reichskanzlers überhaupt, ist, und der 
seine lange Rede für den Antrag dahin schließt: „Wenn uns noch irgend 
ein Zweifel sein konnte, wohin wir jetzt die ganze Front zu richten 
haben, so hat uns doch der Erlaß vom 4. Januar auch den letzten Zweifel 
darüber beseitigt; es ist das jetzt eingetreten, was man leider schon lange 
voraussehen mußte, in der schärfsten und schroffsten Form. Als ich hier
	        
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