Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Ubersichl der polilischen Eulwichelung des Jahres 1882. 521 
tiefses Mißtrauen gegen einander. In Frankreich war überdies seit 
dem Anfange des Jahres unverkennbar eine völlige Wandlung vor 
sich gegangen. Gambetta und alle seine Bestrebungen waren in den 
Kammern und in der öffentlichen Meinung momentan in den tief- 
sten Mißkredit geraten; in der Kammer bestand keine feste Majori- 
tät, auf die sich irgend eine Regierung hätte stützen können und sie 
schien in dieser wie in anderen Fragen vielfach selbst nicht zu wissen, 
was sie eigentlich wolle; die öffentliche Meinung und die Masse der 
Bevölkerung sehnten sich teils nach Ruhe, teils scheuten sie wenig- 
stens jedes sog. Abentener, zumal Freycinet ihr lange nicht genug 
VBertrauen einflößte, um ihm eine so große Verantwortlichkeit zu 
übertragen. Die ganze Idee eines großen nordafrikanisch-frangösi- 
schen Kolonialreiches war slark Furückgetreten, fast schon wieder ver- 
gessen: die Trauben hiengen auch gar so hoch. Die Interventions- 
frage stand im Grunde nur darum noch auf der Tagesordnung, 
weil es doch ganz und gar unmöglich war, sie vollständig anderen 
Zu überlassen, wo so große frangösische Interessen auf dem Spiele 
standen. Je mehr aber Frankreich gurücktrat, desto entschiedener 
trat England nach und nach vor. Wenn Arabi in Agypten voll- 
kommen Meister ward, so war der Suezkanal offenbar in Gefahr 
und der Suegzkanal ist für Englands Macht und für seinen Handel 
ein Lebensinteresse ersten NRanges. Früher hatte es von einer In- 
tervention in Agypten nichts wissen wollen, weil sie ihm nicht dringend 
schien und weil es keine Lust hatte, die Geschäfte Frankreichs zu besor- 
gen und die geheimen Pläne desfelben, die mit seinen eigenen Inter- 
essen nicht übereinstimmten, zu fördern. Im Laufe des Juni aber 
scheint in der englischen Regierung der Entschluß gereift zu sein, even- 
tuell weder die Pforte noch Frankreich allein intervenieren zu lassen, 
sondern jedenfalls dabei zu sein und mitzumachen, sei es mit dem einen 
oder mit der anderen, und sie begann Vorbereitungen und Rüstungen, 
die sich für die mililärischen Verhältnisse Englands allmälig zu ge- 
radezu großartigen ausgestalteten und zwar in demselben Verhält- 
nisse, in dem die Pforte und Frankreich zögerten und sich zurück- 
hielten. 
Am 24. Juni trat die Botschafter-Konferenz in Konstantinopel Lol= 
zusammen und konstituierte sich unter dem Vorsitze ihres Doyens, s,hafter 
des italienischen Botschafters Grafen Corti. Allein es zeigte sichrenz und 
bald, daß die Vertreter der Mächte keine Exekutivbehörde sind, daß Inter- 
ihr dazu alle geeigneten Organe fehlten. Alle waren von vornhereinvn“
	        
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