Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 20-21.) 21
zu sein von der Leistungsfähigkeit dieser Industrie, wie von der Einsicht
und dem kaufmännischen Urteil der Leiter derselben; auf beiden Seiten sei
der Wunsch nach Annäherung ein lebhafter geworden, und seien Einleitungen
getroffen, zum gemeinsamen Vorteile die entstandenen Beziehungen zu be-
festigen und zu erweitern. Bisher sei man gewohnt gewesen, die Interessen
der inländischen Industrie und des hamburgischen Exporthandels gewisser-
maßen als entgegengesetzte anzusehen, man habe konkurriert, statt sich zu
unterstützen. Man sei sich in Folge der historischen Entwicklung der Ver-
hältnisse fremd geblieben. Der deutsche Welthandel sei erst etwa 50 oder
60 Jahre alt; bis in das zweite Dezennium dieses Jahrhunderts war der
trans atlantische Handel von den Kolonialmächten England, Holland und
Spanien monopolisiert. Erst mit der Befreiung der südamerikanischen Ko-
lonien wurde ein weites Handelsgebiet erschlossen, auf welchem die Hanse-
städte Deutschlands einen Anteil am Welthandel zu erobern vermochten.
Die Handelsartikel mußten aber selbstverständlich aus denjenigen Fabrikations-
stätten genommen werden, welche die transatlantischen Märkte seit lange be-
herrschten; Deutschland hatte, „abgesehen von der Leinen-Handweberei, noch
keine exportfähige Industrie. So entstanden Beziehungen aller Art zwischen
Hamburg und den englischen. Fabrikplätzen, persönliche und finanzielle, ham-
burgische Kapitalien wurden in großem Umfange im englischen Kommissions-
handel und in der englischen Fabrikation angelegt — Beziehungen, „welche
zum Teil noch heute von Einfluß auf die Exportverhällnisse sind. Der in-
ländischen Industrie fehlte während ihrer Entwicklung der Rat des aus per-
sönlicher Erfahrung mit den Bedürfnissen der transatlantischen Plätze ver-
trauten Exporteurs, der Exporteur beschwerte sich über mangelhafte Aus-
führung seiner Aufträge durch die deutschen Fabrikanten, umgekehrt führte
der inländische Fabrikant Klage über unbillige Forderungen des Exporteurs.
In Folge dieser Entfremdung seien manche Verhältnisse entstanden, welche
als gesunde und wünschenswerte nicht angesehen werden können. Die Be-
seitigung. der Zollschranken würde in dieser Beziehung gewiß manches bessern
und die Annäherung zwischen Industrie und Export wesentlich fördern. —
Dieselbe Auffassung legt auch in der Debatte der hamburgische Bundes-
kommissär Noeloffs dar: die Vorlage sei keine Schädigung Hamburgs, son-
dern eine Förderung der nationalen Interessen. Die Hereinziehung der Be-
völkerung Hamburgs in die wirtschaftlichen Interessen des Reichs sei die
wesentliche Aufgabe der Vorlage. Die Freihafenfrage im Prinzip werde
durch die Vorlage nicht berührt. Nicht als eine Belagerung Hamburgs
dürfe man die Maßregel ansehen, sondern als ein beiderseitiges Entgegen-
kommen seitens Deutschlands und Hamburgs. Der Wert Hamburgs als
Exportlager, welches den englischen Lagern sogar an Leistungsfähigkeit über-
legen sei, werde durch die Vorlage eher gehoben als geschmälert. Industrie
und Handel, die unter den bisherigen Zuständen eher feindlich als freund-
lich sich gegenüber standen, werden durch den Anschluß Hamburgs versöhnt
und in innige Beziehung gebracht. Man könne seitens Hamburgs nur dank-
bar sein für das Wohlwollen, welches das Reich durch die Vorlage bezeuge.
Dagegen greifen die Vorlage Häuel (Fortschr.) ruhig, Bamberger (Sezess.)
vom Standpunkt des absoluten Freihandels und Eng. Richter (Fortschr.)
mit Vehemenz an, indem der letztere kurzweg behauptet, die Frage sei keine
nationale, sondern lediglich eine Kanzlerfrage, jedoch ohne Erfolg.
Die Entscheidung fällt mit einer stattlichen Mehrheit im Sinne der
Vorlage. 9 Mitglieder (Polen) enthalten sich der Abstimmung. Geschlossen
stimmen die beiden konservativen Fraktionen und die Nationalliberalen für
die Vorlage, ebenso der weit überwiegende Teil des Zentrums; vom Zentrum
stimmen nur die welfischen Hospitanten (mit einer Ausnahme) und acht,