Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Übersichl der polilischen Eulwicktlung des Jahres 1882. 543 
besonderes Geschenk der Vorsehung, da es der neuen Schöpfung eine 
Stetigkeit und Ruhe der Entwickelung verbürgte, die gerade für die 
ersten Zeiten nicht hoch geung angeschlagen werden kann. Das 
Deutsche Reich macht wesentlich dadurch gar nicht den Eindruck 
einer jungen Schöpfung, sondern wie wenn es schon lange bestanden 
hätte. Der Kaiser ist nicht nur ein guter Regent im allgemeinen, 
sondern durch seine Pflichttreue trotz seines hohen Greisenalters das 
wahre Muster eines Negenten, in aller Bescheidenheit doch durch- 
drungen von dem Gefühl seiner Würde an der Spitze eines der 
mächtigsten Staalen aller Zeilen, selbständig, soweit es erforderlich 
ist, und seine Stellung vollkommen ausfüllend selbst neben einer so 
großen und so ausgeprägten Individualität, wie sie der Reichs- 
kanzler darstellt. Dieser aber wacht in fortwährendem Einverständ- 
nis mit dem Kaiser und sichtlich, wenn auch das Einzelne sich der 
näheren Kenntnis und Beurteilung meist entzieht, vielfach vor= und 
nachgebend, mit Argusangen über seinem Werke fort und fort im 
Sinne seiner Befestigung fördernd und auregend, und wenn er darin 
auch teilweise mit der unläugbar überwiegenden Mehrheit der öffent- 
lichen Meinung zusammenstößt und seine Pläne nicht oder doch 
nur zum Teil durchzusetzen vermag, so übt er doch schon durch sein 
bloßes Dasein, seine bloße Existenz an der Spitze der Regierung 
einen ganz gewaltigen, geradezu unberechenbaren Einfluß aus, nicht 
bloß nach außen, sondern auch nach innen. Die deutschen Fürsten 
haben sich nachgerade vollständig überzeugt, daß das Reich ihnen 
das Gefühl einer Sicherheit verleiht, das mehr wert ist, als das- 
jenige einer vollkommenen Selbständigkeit, die in unserer Zeit für 
sie wahrlich mehr Schatten= als Lichtseiten bieten würde, zumal so- 
wohl der Kaiser als der Reichskanzler ihnen gegenüber jedergeit 
einen vollendeten Takt beobachten; ihr Einfluß auf die Angelegen- 
heiten des Reichs ist immerhin vielleicht größer, als man nur zu 
oft annimmt; in der Pflege und Förderung der partikulären In- 
teressen ihrer Staaten und in der freiesten Ausgestaltung jeder be- 
rechtigten Eigentümlichkeit derselben werden sie vom Reiche doch 
nicht wesenklich beschränkt, vielfach sogar eher gefördert und schließlich 
haben sie sich auch davon zu überzeugen Gelegenheit gehabt, daß 
ihr Ansehen unter den Fürsten Europa's sich dadurch, daß sie Reichs- 
fürsten geworden sind, nicht vermindert, sondern im Gegenteil ge- 
hoben hat, eben weil und seit sie untrennbare und bedeutsame 
Glieder eines so mächtigen Reiches geworden. Die Freude und Be-
	        
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