Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Ubersicht der polilischen Entwichelung des Jahres 1922. 510 
Dersuch ist indes erst beichlossen, noch nicht gemackt. In Deutsch- 
land wird sich die Regierung doch besinnen, bevor sie dieser einzelnen 
Interessengruppe, wie zahlreich sie auch ist, auf Kosten anderer ebenso 
beachtenswerter Gruppen und der Gesamtheit die Hand reicht. So 
viel bleibt jedoch richtig. daß die Regierung gegen Freihandel und 
Gewerbefreiheit eine Bahn betreten hat und auf dieser Bahn ver- 
harrt, die weit über das wirkliche Vedürfnis der Gesamtheit hinans- 
geht, und Forderungen der einzelnen Interessengruppen hervorgerufen 
hat, welche nicht nur die gerechten Ansprüche der Individnen auf 
freie Bewegung und ungehemmte Entfaltung ihrer Kräfte beein- 
trächtigen, sondern namentlich auch den wirtschaftlichen Zusammen- 
hang der Nation in fehr gefährlicher Weise zerklüften. Als ergän- 
zendes Prinfip wäre die Anschauung des Reichskanglers eine berech- 
tigte, als System einer totalen wirtschaftlichen Umkehr widerspricht 
sie der Natur der wirtschaftlichen Dinge und der gesamten wirt- 
schaftlichen Entwickelung der Zeit und hat ebendarum keine Aus- 
sicht einer allzu langen Dauer. 
Nicht viel anders verhält es sich mit der Steuerreform des 
Reichskanglers. Der Standpunkt, von dem er ausging, und die Ziel- 
punkte, die er Zunächst ins Auge faßte, waren gang berechtigt, ob- 
gleich sie den bisherigen Anschauungen und dem Zuge der Zeit viel- 
fach direkte widersprachen; aber indem er diese Anschauungen nicht 
bloß korrigieren oder ergänzen, sondern in ihr gerades Gegenteil 
umwandeln wollte, konnte und wollte ihm der Reichstag, im Ein- 
klang mit der weit überwiegenden öffentlichen Meinung, nicht folgen 
und er wird jene Umwandlung auch weiterhin kaum durchzusetzen 
vermögen. Bei seiner Steuerreform handelt es sich übrigens nur 
in zweiter Linie um eine Neform, in erster dagegen um eine Steuer- 
vermehrung. Der Neichskanzler ging dabei von zwei Thatsachen 
aus. Die erste war, daß, abgesehen von den ohnehin stetig wachsen- 
den bisherigen Bedürfnissen, in unserer Zeit dem Staate immer neue 
und neue Aufgaben übertragen werden, die er befriedigen soll, die 
er aber unmöglich befriedigen kann, wenn ihm nicht neue Steuern 
bewilligt würden; und die zweite, daß die Matrikularbeiträge der 
Einzelstaaten, die fortwährend steigen, unmöglich beibehalten werden 
könnten, ohne dieselben finanziell zu erdrücken, wenigstens in die 
äußerste Verlegenheit zu stürzen, da die direkten Steuern in den- 
selben dadurch auf eine geradezu unerträgliche Höhe würden hinauf- 
geschraubt werden müssen. Da nun durch die Bundesverfassung die
	        
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