Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

580 übersicht der polilischen Enkwickelung des Jahres 1882. 
lung von Vertrauensmännern des Volkes, wie sie vor Zeiten statt- 
gefunden hatten, gefallen und dem Kaiser vorgeschlagen zu haben 
scheint. Damit war sein Maß voll. Der Kaiser hält an der Be- 
hauptung seiner absoluten Macht fest und ist nicht geneigt, davon 
auch nur das mindeste abzulassen und sich auf die schiefe Ebene von 
Konzessionen in dieser Beziehung verlocken zu lassen; obgleich Slave 
und durch und durch von flavischem Bewußtsein erfüllt, hat er doch 
ganz und gar keine Lust, einen Krieg, dessen Ausgang für Rußland, 
gelinde gesagt, ein sehr zweifelhafter wäre, bei dem es jedenfalls 
mehr zu verlieren als zu gewinnen hätte, vom Zaun zu brechen, 
und zugleich ist er auch wirklich noch nicht in der Lage, um den 
inneren Schwierigkeiten zu entgehen, eine Diversion nach außen 
suchen zu müssen; wenn auch nicht aus innerer Neigung, wie sein 
Vorgänger, hält er es doch für klüger, die guten Beziehungen zu 
den beiden verbündeten mitteleuropäischen Mächte, zumal zu Deulsch- 
land, aufrecht zu erhalten und zu pflegen, so lange es nur irgend 
möglich ist, zumal Nußland die moralischen und materiellen Nach- 
wehen des letzten Krieges gegen die Türkei keineswegs schon gangz 
verwunden hat. Im April sprach der Kaiser die definitive Ent- 
lassung des Reichskanzlers Fürsten Gortschakoff aus und ernannte 
er den Staatsrat Giers, den bisher schon thatsächlichen Leiter zum 
wirklichen Minister des Auswärtigen und diesem ersten und ent- 
schiedenen Friedenssymptom folgte am 12. Juni giemlich unerwartet 
die Entlassung Ignatieffs. Von diesem Moment an boien die 
Dinge in Nußland im Innern und nach außen ein wesentlich an- 
deres Aussehen dar. Die Judenverfolgungen hörten auf, die Friedens- 
strömung gewann die Oberhand, Ignatieff war fortan ohne irgend 
erheblichen Einfluß mehr und doch regte sich der Nihilismus zunächst 
nicht mehr als vorher. Freilich bleiben die Gegensätze und Ström- 
ungen in der öffentlichen Meinung die gleichen; die Kräfte halten 
sich eine Art von Gleichgewicht und dies ergeugt lediglich einen 
Stillstand, der in keiner Weise als die Grundlage einer normalen, 
gesunden Entwickelung angesehen werden kann. Die Zukunft Ruß- 
lands ist und bleibt eine ungewisse und düstere und eine gewitter- 
schwangere, sei es nun, daß sich das Gewitler nach innen oder nach 
außen entlade. Unglücklicherweise für die Ruhe der Welt ist das 
letztere fast wahrscheinlicher als das erstere.
	        
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