Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 30.) 20
daß man somit diejenigen Privatbahnen, die ihrerseits zur Verstaatlichung
bereit sind, nicht zwingen kann, einen Kampf fortzuführen, dem sie sich nicht
gewachsen fühlen. Die Entscheidung im einzelnen Falle wird demnach ledig-
lich davon abhängen, ob der von der Regierung angebotene Kaufpreis an-
gemessen ist. Das Zentrum hat im Jahre 1879/80 fast einstimmig gegen
den Ankauf der Privatbahnen gestimmt; aber nachdem die bei weitem größere
Hälfte des preußischen Eisenbahnnetzes in der Hand des Staates vereinigt
und es unmöglich ist, diese vollendete Tatsache rückgängig zu machen, trägt
das Zentrum Bedenken, den beiden konservativen Fraktionen und den Nat.-
Liberalen die Durchführung des Systems zu überlassen“ und angesichts der
kirchenpolitischen Lage in der Opposition zu verharren. Für eine geschlossene
unabhängige Majorität im Abgeordnetenhause wäre es eine außerordentlich
wichtige und gar nicht unlösbare Aufgabe, der Verwirrung ein Ende zu
machen, welche durch die Eisenbahn-Verstaatlichung in dem Etat entstanden
ist, und, wie das im Jahre 1879 schon befürwortet wurde, die Eisenbahn-
Verwaltung ganz und gar von dem Etat zu trennen, zugleich aber auch für
eine normale Amortisation der Eisenbahnschuld Sorge zu tragen. Davon
kann aber heute angesichts der kirchenpolitischen Lage kar keine Rede sein.
Das Zentrum wird nur so lange Opposition machen, als es in der Kirchen-
frage mit der Regierung nicht handelseinig ist, und daraus folgt, daß es
bald nach rechts, bald nach links geht, sich alle Wege offen hält und da-
durch jede grundsätzliche Verständigung über Steuer= und Finanzpolikik, so-
bald dieselbe von der Regierung unabhängig ist, unmöglich macht. Ob ein
neues Verwendungsgesetz gemacht wird, welcher Art der Steuererlaß sein
soll, welche neuen Privatbahnen angekauft werden sollen, alles das bleibt
dem Spiel der Kräfte überlassen, welche in der Kirchenfrage um die Herr-
schaft ringen. Auch in anderer Beziehung wird in das Dunkel, in welches
die Finanzpolitik der Regierung nach wie vor gehüllt ist., kein neues Licht
gebracht. Der Finanzminister Bitter spricht von einer Reform der
direkten Steuern; aber vom Abg. Rickert darüber gefragt, wie diese seine
Anschauung mit dem offiziell im Reichstag verkündeten Programm des
Kanzlers, die direkten Steuern so zu sagen ganz abzuschaffen, lediglich als
eine „Anstandssteuer“ für die Reichen bestehen zu lassen und durch indirekte
Steuern ganz zu ersetzen, sich in Einklang bringen lasse, weicht der Finanz-
minister mit der Antwort aus, daß eine Entscheidung des Gesamtminis-
teriums über die bereits ausgearbeiteten Reformgesetze betr. die direkten
Steuern noch nicht vorliege. Auch Benda (nat.-lib.) dringt auf eine schleu-
nige Reform der direkten Steuern und erklärt, er und seine Freunde wären
mit der völligen Beseitigung der untern Klassensteuerstufen bis zu 900 Mark
(aber nicht, wie der Reichskanzler will, bis zu 6.000 Mark) einverstanden. Er
wäre mit einer Reform, welche in den höhern Stufen Kapital und Besitz
höher besteuern als das Einkommen aus Arbeit. Eine solche Reform der
direkten Steuern würde viel dazu beitragen, die jetzige unklare und precäre
Lage der preußischen Finanzen, die auch schwer auf dem Reiche lastet, zu
ordnen und zu sichern. Allein der Finanzminister Bitter setzt die Reform
der direkten Steuern, die er geplant hat, gegenüber dem Reichskanzler nicht
durch, da dieser gerade will, daß die gefährdete Lage der preuß. Finanzen
auf das Reich drücke und ihm die Mittel in die Hand gebe, in diesem
seinen großen Steuerreformplan durchzusetzen.
30. Januar. (Preußen.) Der frühere Kultminister Dr. Falk
wird zum Präsidenten des Oberlandesgerichts in Hamm ernannt
und scheidet vorderhand aus dem politischen Leben aus, da er sein
Landtags= und Reichstagsmandat niederlegen will.