Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 29.) 161
den sog. ministeriellen Wahlerlaß, der von den Ultramontanen und
Demokraten für ungehörig erklärt wird. Staatsminister Turban
erwiedert:
Er glaube sich das Zeugnis ausstellen zu können, daß er die Wahl-
freiheit so hoch halte, als irgend ein Palladium der Konstitution. Der Erlaß
sei nur an die Beamten, sonst an niemand gerichtet gewesen; er sei von erstern
dringend gewünscht worden und betone durchaue keinen Parteistandpunkt. Es
habe sich darum gehandelt, Aufklärung in die leider getrübte Situation zu
bringen, die Wahrheit über die Politik der Regierung offen zu sagen. Er,
der Minister, schiebe niemals den Großherzog vor, sondern trage alle Ver-
antwortung ganz allein; aber der Großherzog selbst habe erkannt, daß nur
er, in dessen Hand sich alle Regierungsgewalten vereinigen, das aufklärende
Wort sprechen könne: „Es ist nicht wahr, daß Änderungen in der Politik
eingetreten oder beabsichligt sind.“ Er, der Minister, habe lediglich eine
Pflicht erfüllt und es gebühre dem Großherzog der Dank des Landes.
29. November. (Preußen.) Abg.-Haus: überweist die Vor-
lagen einer Kreis= und Provinzialordnung für Hannover an eine
Kommission von 21 Mitgliedern.
Windthorst erklärt sich nachdrücklich gegen die Vorlage: Es wäre
eine gesunde innere Politik, wenn man die Leute in Hannover möglichst in
Ruhe und an den gewohnten historischen Verhältnissen sich genügen lasse; die
allerüberwiegendste Mehrheit der Bevölkerung wünsche, daß es beim alten
bleibe, es haben nur nicht alle den Mut es auszusprechen. Er vertraue auf
die Kraft der gewohnten Verhältnisse und werde aus diesen heraus jede ein-
zelne Bestimmung der Vorlagen bekämpfen. Der Tag werde nicht ausbleiben,
wo eine allgemeine Reaktion gegen die neuen Verwaltungegesetze lomme und
sie beseitige. Man wolle den Provinzen westlich von der Elbe die Selbst-
verwaltung möglichst beschränken und suche dies dadurch zu erreichen, daß
man eine Provinz nach der anderen abschlachte; solange die Regierung nicht
einen klaren Plan für alle Provinzen gebe, thue man besser, am am bisherigen
festzuhalten. Die alte Amterverwaltung habe vorzüglich gewirkt. Die Regie-
rung habe zwar den vorjährigen Entwurf möglichst nach den Wünschen der
Kommission modifiziert, aber den Forderungen der Provinz entspreche er doch
durchaus nicht, wie die Verhandlungen des Provinziallandtags ergäben. Die
ständische Vertretung habe sich in Hannover schon einmal bewährt gegenüber
den Beamten, welche die Verwaltung an sich gezogen, und werde sich auch
wieder bewähren. Die Vorlage sei auch dem konservativen Prinzip wider-
sprechend. In der That ist auch die konservative Partei nur zum Teil für
die Vorlage, deren Annahme seitens des Haufes darum ziemlich zweifelhaft
ist, wofern sie nicht von der Kommission wesentlich modifiziert wird.
Die polnischen Abgeordneten überreichen dem Kultminister eine
von einer oberschlesischen Katholikenversammlung beschlossene Petition
um Erteilung des Religionsunterrichts für polnische Kinder in ihrer
polnischen Muttersprache, mit 52,870 Unterschriften.
Die Petenten betonen, daß sie durch ihren Antrag den deutschen
Schulunterricht in keiner Weise beeinträchtigt wissen wollen; denn sie wüßten
sehr wohl, daß die deutsche Sprache für die oberschlesische Iugend zu ihrem
besseren Fortkommen unumgänglich notwendig sei. Sie wünschen deshalb
sogar ausdrücklich, daß die deutsche Sprache dasjenige Maß fördernder Pflege
erfahre, welches notwendig ist, um auch die oberschlesischen vonde polnischer
Schulthess, Europ. Geschichtslalender. XXIV. Bd. 11