Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 29—30.) 17
doch wieder von dem bekannten Agrarier Frhrn. v. Thüngen--Roßbach
ein „Bauernverein“ gegründet, dessen Programm den Bauern alles
Mögliche und Unmögliche als „unerläßlich zur Hebung der dar-
niederliegenden Landwirtschaft und zur Erlangung eines leistungs-
fähigen Baueinstandes“ in Aussicht stellt.
Es sind indes nur ca. 70 Personen und darunter etwa 50 Bauern
erschienen. Um „weitschweisige Debatten zu vermeiden“, sollen nur Bauern
sprechen dürfen. Es spricht aber keiner und einem amwesenden Sozialdemo-
kraten wird das Wort abgeschnitten. Hr. v. Thüngen entwickelt das Pro-
gramm in folgenden wesentlichen Punkten: 1) Größtmögliche Sparsamkeit im
Haushalte des Reichs, Staats namentlich Ersparungen am Militär, an
den Eisenbahnen, am Beamtenpersonal ect.; 2) Revision der „verdammens-
würdigen“ Gesetze über Heimat, Verehelichung und Armenwesen behufs Ver-
minderung der Gemeindelasten; 3) gründliche Steuerreform behufs Entlastung
des Grundbesitzes; 4) Erweiterung des indirekten Steuersystems: wer keine
Tabaksteuer zahlen will, braucht nicht zu rauchen und wer keine Zuckersteuer
zahlen will, soll seinen Kaffee ohne Zucker trinken; 5) Abminderung (Er-
mäßigung) der jetzigen Branntweinsteuer, dagegen Besteuerung des Zwischen-
handels mit Branntwein und ein Börsengesetz (unsere Börsen sind jüdische
Räuberhöhlen); 7) Schaffung einer entsprechenden Erbfolgeordnung und Uber-
nahme der bäuerlichen Schulden durch den Staat. Dazu kommen dann noch
staatliche Schaffung Raiffeisen'scher Darlehnskassen, Einführung der Doppel-
währung an Stelle der Goldwährung u. dgl.
29. Januar. (Deutsches Reich.) Bundesrat: Die Erörte=
rungen über eine Ligenzsteuer auf Tabak und Spiritus für das
ganze Reich sind auf den Herbst vertagt, um den Einzelstaaten Zeit
zu lassen, zu der wichtigen Frage Stellung zu nehmen. Bis jetzt
scheint dieselbe im Bundesrat wenig Anklang gefunden zu haben.
30. Januar. (Deutsches Reich.) Reichstag: Etatsberatung,
Postetat: der (ultram.) Abg. Lingens stellt im Interesse der Sonn-
tagsruhe für die Post= und Telegraphenbeamten folgenden Antrag:
„Den Reichskanzler zu ersuchen, darauf Bedacht zu nehmen: a) daß
an Sonn= und Festtagen nur Briefe, Postkarten und mitlelst Postdebit zu
beziehende Zeitungen anzunehmen, zu befördern, auszugeben und zu bestellen,
dagegen Warenproben, Drucksachen, Packete, Geld= und Wertsendungen, in-
soferne solche nicht als durch Eilboten zu bestellende aufgegeben werden, vom
Dienste auszuschließen seien; b) daß an Sonn- und Festtagen Telegramme
mil einem Aufschlage von 20 % zu belegen seien.“ Der Antrag wird von
mehreren Rednern lebhaft unterstübt. Dagegen tritt ihm Minister Maybach
entgegen, indem er auf die Tragweite desselben aufmerksam macht. Das
Haus beschließt, denselben erst bei der 3. Lesung des Etats zur Abstimmung
zu bringen.
30. Januar — 2. Februar. (Preußen.) Abg.-Haus: Steuer-
kommission: beschließt mit 14 gegen 6 Stimmen, nur die Aufhebung
der beiden untersten Klassensteuerstufen zu beantragen. Für Be-
seitigung der 3 untersten Steuerstufen sprechen sich nur 2, für die-
jenigen der 4 untersten Stufen 6 Mitglieder aus.
Schulthess, Europ. Geschichtskalender. XXIV. B. 2