Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

332 Pelgien. (Aug. 6.) 
stützung freier Schulen in den meisten ländlichen Ortschaften zur Folge haben, 
daß die Gemeinden ihre Schulen aufgeben und der Geistlichkeit den Volks- 
unterricht unbedingt überliefern werden. Unter dem jebhigen Gesetz können 
die Gemeinden durch die Oberbehörde zur Errichtung von Kindergärten und 
Schulen für Erwachsene angehalten werden; die Ordunng dieser Gegenstände 
oll dem Ermessen der Gemeindeverwaltungen auheimgestellt werden. Die 
— beranntcht der staatlichen Behorden über die Zahl der Schulen und Lehrer 
owie die Trennung oder Vereinigung der Knaben und Mädchen soll eben- 
alls verschwinden. Die örtlichen Behörden werden unter dem Drucke der 
Einwohnerschaft und der Geistlichen dahin geführt werden, daß sie zumeist 
aus Sparsamkeitsrücksichten die bisherigen öffentlichen Schulen eingehen lassen; 
die Geistlichen erheben oder erzwingen nämlich von der Vevölkerung die Bei- 
träge zum Unterhalt der freien Schulen, welche dem Willen der Bischöfe ge- 
mäß in allen Ortschaften des Landes errichtet worden sind. Uberdies stehen 
zahlreiche öffentliche Schulen soznsagen leer und die Gemeinden, welche un- 
beschäftigte Lehrer besolden müssen, werden nicht anstehen, dieselben zu ent- 
lassen. Allerdings muß den wegen Abschaffung ihres Amtes enllassenen 
Lehrkräften dem neuen Gesetzentwurfe zufolge ein Wartegehalt ausbezahlt wer- 
den. Was wird jedoch späterhin aus all diesen Lehrern und ihren Familien 
werden „Qu ils Sen aillent!“ (Mögen sie gehen!) hatte bereits vor einem 
Jahr der jebige Justizminister Woeste auf diese Frage geantwortet. Die 
Regierung will jedoch Ansnahmen gestatten: sind zwanzig Familienväter, 
deren Kinder die Schule besuchen oder ihres Alters wegen besuchen sollen, 
der Ansicht, die Gemeindeschule sei beizubehalten, so wird derselben Rechnung 
getragen. Nun aber wird es in Belgien auf dem Lande höchst selten vor- 
kommen, daß sich in einer Gemeinde zwanzig mutige und nnabhängige Männer 
finden, welche dem Ortsgeistlichen, dem grundsählichen Feinde der öffentlichen 
Schule. Widerstand zu leisten im stande sind. In Bezug auf preligiosen Unter= 
richt wird folgende Vestimmung vorgeschlagen: Art. 4. „Der Anterricht in 
der Religion und in der Siltenlehre kann von den Gemeinden an die Spitze des 
Lehrplaus aller oder einiger ihrer Schulen gestellt werden. Dieser Unterricht 
wird am Beginn oder am Schluß der Schulstunden erteilt; den Kindern, 
deren Eltern es wünschen, ist gestattet, demselben nicht beizuwohnen.“ Das 
Gesetz von 1879 siellt den religiösen Unterricht den Familien und den 
Kultusdienern anheim, gestatlet letztern aber auch, denselben im Schullokal 
außerhalb der Schulstunden zu erteilen. Kein Geistlicher hat jedoch von 
dieser Ermächtigung Gebrauch machen dürfen. Wird durch zwanzig Väter von 
Schulkindern die Ermächtigung zum Nichtbesuch des pflichtmäßigen Religions- 
unterrichts nachgesucht, so kann durch königlichen Beschluß die Errichtung 
einer besondern Schule für diese Kinder angeordnet werden; umgekehrt kann 
eine Gemeinde dazu angehalten werden, eine freie Schule anzuerkennen und 
zu unterstützen, wenn sie dem Verlangen von zwanzig Familienvätern um 
Einführung des lichtmäßigen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen 
nicht nachkommen wollte. Die anerkannten Privatschulen müssen sich der 
siaatlichen Aufsicht unterwersen, die sich jedoch nicht auf den Unterricht und 
die Sittenlehre und die Religion erstrecken darf. Wie in ihrem Pereich die 
Gemeinde freie Elementarschulen, so wird künftighin auch der Staat freie Lehrer- 
seminare anerkennen und nterstühen; auch werden die aus lehtern Anstalten 
bervorgehenden Zöglinge zum behranmt. auch an öffentlichen Schulen zugelassen. 
Die Zahl der Gymnasien wird durch die Vorlage auf 20, die der höheren 
Elementarschulen für Knaben auf 100, für Mädchen auf 50 herabgesetzt. 
6.—30. August. Kammer: Große Debatte über den klerikalen 
Schulgesetzentwurf. Der erste Artikel der Vorlage wird schließlich