Full text: Europäischer Geschichtskalender. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1884. (25)

4 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 4 —5.) 
amt die Aussicht über die Ausführung des Gesetzes, allerdings auf seine 
eigenen Kosten, führen; nur in dem Falle, daß eine Berufsgenossenschaft 
zahlungsunfähig werden sollte, hat das Reich für die Erfüllung der Ver- 
pflichtungen einzutreten. Das Schwergewicht des ganzen Entwurfs als eines 
neuen beruht wesentlich auf diesem Reichsversicherungsamt und auf neu zu 
bildenden Arbeiterausschüssen, denen eine wesentliche Einwirkung auf 
die Ausführung des Gesetzes zugestanden werden soll. Den Ausgangspunkt 
hiefür bildet der völlige Wegfall der künstlichen Konstruktion der Versiche- 
rungsverbände. welche in dem weiten Entwurf so viel Anstoß erregt hatten. 
Der jetzige Entwurf geht, wie es in der Begründung heißt, davon aus, daß 
in der Gemeinsamkeit des Berufs die Gemeinschaft der sozialen Interessen 
und Pflichten wurzelt und daß demnach die Gesamtheit der Berufsgenossen 
ohne territoriale Abgrenzung derselben nach Verwaltungsbezirken und Staats- 
gebieten die Grundlage der Unfallversicherung zu bilden habe, wobei selbst- 
verständlich nicht ausgeschlossen ist, daß gleiche oder verwandte Betriebe sich 
zu einer Genossenschaft vereinigen. Die Bedingungen, unter denen solche ge- 
nossenschaftliche Bildungen stattfinden sollen gesetzgeberisch zu formulieren, 
ist den Urhebern des Entwurfs nicht gelungen — was übrigens wenig über- 
raschen kann; an die Stelle gesetzlicher Vorschriften tritt die Entscheidung 
einer aus vier von dem Kaiser, vier von dem Bundesrat und zwei von den 
Arbeiterausschüssen bestellten Mitgliedern bestehenden Behörde, welcher der 
Name  ,,Reichsersicherungsamt“ beigelegt ist. Die Kompetenz dieses Amtes 
nach dem Inhalte des Entwuris im einzelnen klarzulegen, wäre ziemlich 
schwierig. Der Vorsitzende und vier Mitglieder dieser Behörde entscheiden 
nach völlig freiem Ermessen über die Bildung, Auflösung und Vereinigung 
der Berufsgenossenschaften, ja sie können sogar gestatten, daß die wenigen im 
Gesetz enthaltenen Vorschriften über die Organisation u. s. w. der Genossen- 
schaften durch genossenschaftliches Statut abgeändert werden. Diese Schöpfung 
des „Reichsversicherungsamtes“ mag im einzelnen mit mehr oder weniger Er- 
folg kritisiert werden; aber das wird jeder unbefangen Urteilende einräumen 
müssen., daß eine solche kontrollierende und leitende Instanz unentbehrlich ist, 
wenn man nicht noch einen Schritt weiter gehen und auch auf die zwangs- 
weise Bildung von Genossenschaften verzichten, d. h. den Betriebsunternehmern 
überlassen will, wie und in welchen Formen sie der Verpflichtung, ihre 
Arbeiter gegen ünfälle zu versichern, nachkommen wollen. Man ist gespannt, 
wie die Industriellen sich zu dem Vorschlage der Einsetzung dieses „Reichs- 
versicherungsamtes“ stellen werden, welches in einem gewissen Gegensatz zu dem 
Gedanken selbständiger  berufsgenossenschaftlicher Korporationen zu stehen scheint. 
Jedenfalls liegt in diesem Vorschlage der Schwerpunkt des ganzen Entwurfs; 
derselbe steht oder fällt mit der Annahme oder Ablehnung des  Reichsversiche- 
rungsamtes. 
4 Jannar. (Deutsches Reich.) Das Reichsgericht hebt das 
Urteil des Schwurgerichts in Köslin gegen die des Synagogenbrandes 
in Neustettin angeklagten Juden auf und überweist den Prozeß an 
das Landgericht in Konitz (s. 1883: 19. Oktober). 
5. Januar. (Deutsches Reich.) Erste Generalversammlung 
des deutschen Kolonialvereins in Frankfurt a. M. unter dem Vor- 
sitze des Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg. 
Der Verein zählt jetzt 3260 Mitglieder, darunter zahlreiche Korpo- 
rationen, wie Stadtgemeinden, Handelskammern, Handels- und kaufmännische 
Vereine. Derselbe faßte bisher in 492 Orten Deutschlands und 43 außer-
	        
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