Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Das dentsche Reihh und seine einzelnen Glieder. (Juni 9.) 99 
Der gute Eindruck, den er von den Aussichten der Vorlage zunächst 
gehabt habe, sei seit den letzten Verhandlungen abgeschwächt und er sei nicht 
ohne Besorgnis. Die vom Kriegsminister angedeuteten Zukunftspläne hätten 
sich zu düsteren Gestaltungen in der Bevölkerung verdichtet, und sei es des- 
halb nötig, die Vorlage wieder mehr als das erscheinen zu lassen, was sie sei. 
Was über weitere Pläne gesprochen worden sei, sei aus der Absicht 
hervorgegangen, auf keinen Fall unwahr zu sein; es handele sich aber dabei 
vorerst nur um schätzenswerte Ideen, von denen er selbst noch nicht wisse, 
welche Stellung er dazu zu nehmen hätte, noch weniger, welche die ver- 
bündeten Regierungen einnehmen würden. Man müßte jedenfalls vorher die 
finanzielle Seite der Sache erörtert haben; das Aufbringen so großer Summen 
bringe aber viele Schwierigkeiten mit sich. Er und der Kriegsminister hätten 
nur ehrlich auftreten wollen. 
Die Aufregung im Publikum habe auch die geplante Erhöhung der 
Offiziersgehälter damit verknüpft, daß jetzt ein „Soldat“ Reichskanzler sei; 
ihm aber habe weniger die militärische als vielmehr die finanzielle Seite 
der Sache Sorge bereitet. Er sei übrigens bezüglich dieser Frage in von 
seinem Vorgänger gut geheißene Pläne eingetreten. Also trage an dieser 
geplanten Erhöhung nicht seine zu militärische Bildung die Schuld. 
Die Vorlage habe ihre Wurzeln in der Vergangenheit, in der Bil- 
dung zweier Armeekorps und den Rüstungen der Nachbarn. 
Es sei auch nicht notwendig, Kompensationsforderungen an die jetzige 
Vorlage zu binden. Es wäre fast verbrecherisch von den verbündeten Re- 
gierungen, ohne Not neue Forderungen zu stellen. Sollte es aber später 
notwendig werden, dann würde auch der Moment gekommen sein, in dem es 
Pflicht und taktisches Erfordernis für dieselben sein würde, sich ernstlich mit 
den Kompensationen zu beschäftigen. 
Das Septennat wäre von selbst durchbrochen, wenn vor Ablauf des- 
selben eine Vorlage käme, wie die vom Kriegsminister angedeutete. Niemand 
aber wisse, ob eine solche kommen würde. 
Er glaube, daß die verbündeten Regierungen eine Abänderung des 
Septennats zur Zeit ablehnen würden; mehr empfehle sich, durch eine Re- 
solution dahin gehende Erwägungen anzuregen. 
Ebenso verhalte es sich mit der zweijährigen Dienstzeit, er könne 
namens der verbündeten Regierungen nichts erklären. 
Der Reichstag verliere nichts, ob er die Kämpfe früher oder später 
aufnähme; die verbündeten Regierungen aber hätten ein sehr starkes Interesse 
daran, die Vorlage jetzt bewilligt zu sehen. Das Ausscheiden des Fürsten 
Bismarck aus dem Reichsdienst habe Verhältnisse hinterlassen, die nicht so 
sicher seien, als zu der Zeit, da seine faszinierende Persönlichkeit noch vor 
der Welt stand. Immer habe man damit rechnen müssen, daß er einmal 
nicht mehr da sein würde, und daß die Uebergangszeit schwierige Verhält- 
nisse bringe, war immer klar; warum aber wolle man jetzt die Schwierig- 
keiten ohne zwingenden Grund vermehren? Biele Dinge würden, statt wie 
früher mit einem Ausrufszeichen, jetzt mit einem Fragezeichen behandelt. 
Die einfachsten Geschäfte fallen der Regierung jetzt oft schwerer; man 
sollte darum jetzt keine konstitutionellen Doktorfragen aufwerfen, die zu einer 
Krisis führen könnten. Haben sich die Verhältnisse befestigt, so würde er 
einen ihm angebotenen Kampf mit Kampfesfreudigkeit aufnehmen; zur Zeit 
aber sollte man die Situation nicht schwieriger machen, als sie es so wie so sei. 
9. Juni. Der Kronprinz von Italien trifft von Peters- 
burg kommend in Potsdam ein. 
77
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.