Das beutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Okt. 28.—Ende.) 159
daß sich ihr die für die Erschließung und Ausnutzung nötigen Privatkapitalien
bald zuwenden werden.“
28. Oktober. Graf Moltke richtet an den Oberbürger-
meister von Berlin folgendes Schreiben:
Wie Sie an meinem Geburtstage die gemeinschaftliche Adresse der
deutschen Städte und der Haupt= und Residenzstadt Berlin mir überreichten,
habe ich meinen tief empfundenen Dank für die hohe, mir dadurch erwiesene
Ehre schon persönlich Ihnen und den übrigen anwesenden Herren aussprechen
können. Gleichzeitig durfte ich Ihnen, als dem ersten Vertreter der Stadt,
für den großartigen Fackelzug danken, den Berlin mir am Abend vorher
gegeben hatte. Dennoch ist es mir Bedürfnis, Ihnen noch einmal schriftlich
zu wiederholen, wie tief mich diese Beweise des Wohlwollens meiner Mit-
bürger bewegt haben. Mit inniger Freude hat es mich erfüllt, daß Städte
aller deutschen Lande zu einer gemeinsamen Adresse zusammengetreten sind
und daß im Verein mit der akademischen Jugend die Berliner Bürgerschaft
aller Kreise in einem so überaus glänzenden Fackelzug sich vereinigt hatte,
um meinen 90. Geburtstag zu feiern. In diesen gemeinsamen Kundgebungen
sehe ich mehr als eine Huldigung für meine Person. Ich fasse sie auf als
einen Ausdruck der Erinnerung an jene Zeit, wo das Vaterland aus trau-
riger innerer Zersplitterung heraus sich erhob; wo alle seine Stämme, zu
treuer Waffenbrüderschaft geeint, in heißem Streit ein einiges und starkes
Deutschland sich erkämpften, um es dereinst als teuerstes Vermächtnis den
kommenden Geschlechtern zu hinterlassen. In diesem Sinne nahm ich die
Huldigung gern an, die mir, als dem ältesten Soldaten der Armee, gebracht
worden ist. Abermals habe ich aus ihr die freudige Gewißheit geschöpft,
daß die schwer errungene, mit teurem Blut bezahlte Einigkeit Deutschlands
stets unerschütterlich sich zeigen wird, wo es sich um die Erhaltung des Be-
stehenden handelt, um sein Heer und um die gemeinsame Verteidigung für
Kaiser und Reich.
Ende Oktober. Eine große Anzahl von Blättern erheben
Klage über die hohen Fleischpreise, welche zum Teil auf die Vieh-
zölle, zum Teil auf sanitätspolizeiliche Einfuhrverbote zurückgeführt
werden. Es wird bekannt, daß die süddeutschen Staaten einen An-
trag auf Aufhebung der letzteren im Bundesrat eingebracht haben
und daß infolge dessen eine neue Enquete angeordnet worden ist.
Zugleich verbreitet sich das Gerücht, daß die Stellung des Land-
wirtschaftsministers v. Lucius erschüttert sei. Im Gegensatz zu
alledem schreibt der „Reichsanzeiger“:
Ein Einfluß des Fleischzolles auf die Preisbewegung sei nicht erkenn-
bar. Die Erhöhung der Zölle in den Jahren 1885 bis 1888 war von einem
stetigen Fallen der Fleischpreise begleitet gewesen. Das Inkrafttreten der
Einfuhrverbote könne gleichfalls eine ausschlaggebende Veranlassung zu dem
stetigen Steigen des Preises seit dem August 1889 nicht gegeben haben, denn
diese Verbote hätten das allmähliche Fallen des Preises auf den niedrigen
Stand von 1888 nicht verhindert. Die Gründe der Preissteigerung seien
vielmehr bei unbefangener Erwägung unschwer in anderen Umständen zu
finden. Die schlechten Futterernten 1888 in Süddeutschland und 1889 in
Norddeutschland verminderten das Schlachtvieh und steigerten neben anderen
Ursachen die Fleischpreise; ebenso würde die jetzige gute Ernte das Angebot