Das bentsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 4.) 173
denkwürdigen Ordre vom 1. Mai vorigen Jahres uns aufgerufen, die Schule
für befugt und berufen erklärt, mitzuwirken an der Erneuerung des Volkes
auf den Gebieten, welche durch die Mächte des Umsturzes in Frage gestellt
sind. Ew. Majestät haben nicht verkannt, daß die Arbeit der Schule zwar
die machtvollste, aber auch die langsamste und mühsamste ist, und daß erst
vom Lehrer angefangen werden muß, ehe die Ziele innerhalb der Schüler
erreicht werden können. Ew. Majestät haben erneut auf die Bedeutung auf-
merksam gemacht, welche in der richtigen Aneignung der Religion, in der
Hervorhebung der sittlich-relegiös bildenden Momente unserer preußischen
Geschichte eingeschlossen liegen, und wir sind Ew. Majestät aufs tiefste in
Dankbarkeit verpflichtet, in dieser energischen und kraftvollen Weise uns den
Weg gewiesen zu haben. Diese Allerhöchste Kundgebung vom 1. Mai 1889
fiel mitten hinein in eine bereits machtvolle Bewegung, welche auf dem Ge-
biete des Unterrichtswesens ganz Deutschland ergriffen hatte. Wo die An-
fänge der Bewegung liegen, weiß man überhaupt nicht bei großen Ereig-
nissen; aber im allgemeinen darf man wohl sagen, daß die veränderte Welt-
stellung Preußens und Deutschlands unseren Blick erweitert und uns allen
die Frage auf die Lippen geführt hatte, ob unsere Erziehung noch genau in
denselben Bahnen sich bewegen könne wie früher, wo Deutschland mehr ein
in sich gekehrtes, ein einsames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo
unsere Augen erweitert sind, wo unsere Blicke sich richten auf alle Nationen,
wo wir Kolonien vor unseren Augen haben: überall haben wir den Ein-
druck, daß wir vielleicht den Zaun, der bisher unser Unterrichtswesen um-
schlossen hielt, in dieser oder jener Weise durchbrechen müssen. Mehr noch
war das Streben zu erkennen, daß die innerliche Aneignung des Stoffes
Fortschritte mache, daß die Methode der Lehrer gebessert werde, daß man
Zeit gewinnen möchte für die Kräftigung der Jugend, und für Preußen
wurde diese Bewegung eine um so machtvollere und intensivere als in Preußen
— es ist nicht zu leugnen — durch eine übermäßige Zahl von höheren
Schulen und durch eine übermäßige Produktion von akademisch Gebildeten
alle gelehrten Berufsfächer überfüllt waren und nun in der Not, im Kampfe
um das Dasein, eine Menge Zweifel auftraten, ob die Schule selbst, die
Unterrichtsmethode eine Verschuldung treffe. So sind wir in Preußen im
Gegensatz zu den süddeutschen Staaten in eine Bewegung hineingekommen,
in der das Berechtigungswesen in dem Kampf der Konkurrenz eine hervor-
ragende Bedeutung gewinnt. Ich bin nicht im stande, in einem einleitenden
Vortrage auch nur zu skizzieren, in welchen Richtungen die Hauptbewegung
sich gestaltet. Man kann aber wohl sagen, daß von den radikalsten Auf-
fassungen bis zu den konservativsten hin jede Nüance eines neuen Vorschlages
sich vorhanden findet. Das preußische Schulwesen hat aber — und das
muß doch wohl in der Einleitung hervorgehoben werden — doch insofern
eine eminent politische Bedeutung, als es ein einigendes Band innerhalb der
deutschen Staaten geworden ist. Nach Preußen haben sich die übrigen deut-
schen Staaten gerichtet. Mit Preußen haben die übrigen deutschen Staaten
Verträge geschlossen über Lehrerbefähigung und Reifezeugnisse; die Reichs-
Gesetzgebung hat sich der Vorschriften bemächtigt für Mediziner und Juristen,
die preußische Gesetzgebung für Theologen und für Lehrer; kurzum auf allen
Gebieten hat sich ein Band geschlossen zwischen Preußen und den übrigen
deutschen Staaten. Und wenn wir hier am heutigen Tage eine durchaus
preußische Versammlung sind, so müssen wir uns doch eingedenk halten, daß
das gesamte Deutschland mit Aufmerksamkeit auf unsere Beratungen seine
Blicke richtet. Zwar befinden sich hier unter uns, mit Erlanbnis ihrer
hohen Regierungen, drei Herren, welche nicht Preußen angehören, aber ich
habe es den Herren erklärt und wiederhole es hier, daß sie nicht als Ver-