Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dez. 4.) 175 
mit dem deutschen Wort „Schulfrage" benannt hätten. „Frage“ ist das 
alte deutsche Wort für Voruntersuchung, und Ich muß sagen, das ist auch 
mehr oder weniger eine Voruntersuchung. Nennen wir die Sache doch kurz- 
weg „Schulfrage“. 
Ich habe die 14 Punkte durchgelesen und finde, daß dieselben leicht 
dazu verführen könnten, die Sache zu schematisieren. Das würde Ich im 
höchsten Grade bedauern. Die Hauptsache ist, daß der Geist der Sache er- 
faßt wird und nicht die bloße Form. Und da habe Ich Meinerseits einige 
Fragen aufgestellt — Ich werde sie zirkulieren lassen —, von denen Ich 
hoffe, daß sie auch Berücksichtigung finden werden. 
Zunächst „Schulhygiene außer Turnen“ — eine Sache, die sehr genau 
erwogen werden muß —; sodann „Verminderung des Lehrstoffs“ (Erwägung 
des Auszuscheidenden); ferner die „Lehrpläne für die einzelnen Fächer“, so- 
dann die „Lehrmethode für die Organisation“ — es sind bereits die Haupt- 
punkte vorgeschlagen worden —; sechstens: „Ist der Hauptballast aus den 
Examina beseitigt"“ und siebentens „die Ueberbürdung in Zukunft vermieden“! 
achtens: „Wie denkt man sich die Kontrolle —, wenn das Werk zu Stande 
gekommen ist“? neuntens: „regelmäßige und außerordentliche Revisionen“ 
durch verschiedene Ober-Behörden“! 
Ich lege hier die Fragen auf den Tisch des Hauses; wer sie sich an- 
sehen will, kann sich darüber weiter informieren. 
Die ganze Frage, meine Herren, hat sich allmählich, vollkommen von 
selber entwickelt; Sie stehen hier einer Sache gegenüber, von der Ich fest 
überzeugt bin, daß Sie durch die Vollendung, die Sie ihr geben werden, 
durch die Form, die Sie ihr aufprägen werden, dieselbe wie eine reife Frucht 
der Nation überreichen werden. · 
Dieser Kabinets-Ordre, die der Herr Minister vorhin zu erwähnen 
die Güte hatte, hätte es vielleicht nicht bedurft, wenn die Schule auf dem 
Standpunkte gestanden hätte, auf welchem sie hätte stehen müssen. — Ich 
möchte im voraus bemerken, wenn Ich etwas scharf werden sollte, so bezieht 
sich das auf keinen Menschen persönlich, sondern auf das System, auf die 
ganze Lage. — Wenn die Schule das getan hätte, was von ihr zu ver- 
langen ist, — und Ich kann zu Ihnen als Eingeweihter sprechen, denn Ich 
habe auch auf dem Gymnasium gesessen und weiß, wie es da zugeht — so 
hätte sie von vornherein von selber das Gefecht gegen die Sozialdemokratie 
übernehmen müssen. Die Lehrerkollegien hätten alle miteinander die Sache 
fest ergreifen und die heranwachsende Generation so instruieren müssen, daß 
diejenigen jungen Leute, die mit Mir etwa gleichaltrig sind, also von etwa 
30 Jahren, von selbst bereits das Material bilden würden, mit dem Ich 
im Staate arbeiten könnte, um der Bewegung schneller Herr zu werden. 
Das ist aber nicht der Fall gewesen. Der letzte Moment, wo unsere Schule 
noch für unser ganzes vaterländisches Leben und für unsere Entwicklung 
maßgebend gewesen ist, ist in den Jahren 1864, 1866—1870 gewesen. Da 
waren die preußischen Schulen, die preußischen Lehrerkollegien Träger des 
Einheitsgedankens, der überall gepredigt wurde. Jeder Abiturient, der aus 
der Schule herauskam und als Einjähriger eintrat oder ins Leben hinaus- 
ging, alles war einig in dem einen Punkte: das Deutsche Reich wird wieder 
aufgerichtet und Elsaß-Lothringen wiedergewonnen. Mit dem Jahre 1871 
hat die Sache aufgehört. Das Reich ist geeint; wir haben, was wir er- 
reichen wollten, und dabei ist die Sache stehen geblieben. Jetzt mußte die 
Schule, von der neu gewonnenen Basis ausgehend, die Jugend anfeuern und 
ihr klar machen, daß das neue Staatswesen dazu da wäre, um erhalten zu 
werden. Davon ist nichts zu merken gewesen, und jetzt schon entwickeln sich 
in der kurzen Zeit, seit der das Reich besteht, zentrifugale Tendenzen
	        
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