256 Ilalien. (Nov. 9. - 18.)
9. November. (Salerno.) Das Haupt der Opposition gegen
Crispi, Nicotera, führt in einer Wahlrede aus:
Der italienischen Regierung liege die strenge Pflicht ob, die getroffenen
Vereinbarungen zu beobachten, ohne sich durch die Machtbegier oder die Sucht,
mit seinem Namen zu prunken, Feinde zu schaffen. Je weniger man die Be-
ziehungen des Staates zur Kirche erörtere, desto mehr gewinne man. Eine
wohlangewandte Freiheit sei das wirksamste Mittel, die Ursachen des Kam-
pfes zwischen Staat und Kirche zu verringern, wenn nicht zu beseitigen.
15. November. Die Zeitung „Fanfulla“ meldet, bei den
Besprechungen zwischen Herrn Crispi und Herrn v. Ca-
privi, die auf die wirtschaftliche Lage Bezug hatten, habe es sich
nicht um die Bildung einer Zollliga gegen die Vereinigten Staaten
gehandelt, sondern um den Zusammenschluß Deutschlands, Oester-
reich-Ungarns und Italiens, sowie verschiedener anderer kleinerer
Staaten gegen die schädliche Schutzzollpolitik Frankreichs mit der
Absicht, diese Union im Jahre 1892 nach Ablauf der Handelsver-
träge ins Leben zu rufen. Crispi habe versprochen, diesen Vor-
schlag in Erwägung zu ziehen.
18. November. Bei einem Bankett in Turin hält Crispi
folgende Rede:
Nach einem Rückblick auf die während seiner Amtsthätigkeit voll-
zogenen Reformen weist er die Anschuldigung zurück, daß er seine Partei
verlassen habe und eine Diktatur ausübe. In betreff der Kolonialpolitik
erwarte das Land beruhigt und vertrauensvoll den Ausgang der Verhand-
lungen zur Abgrenzuung der italienischen Okkupations= und Interessen-Sphäre
bei welchen Italien, von den versöhnlichsten Absichten geleitet, mit den besten
Aussichten auf Erfolg vorgehe. Die Angriffe gegen die internationale
Politit Italiens seien nicht im stande gewesen, das Land zu erregen; die
efreundeten Regierungen zeigten sich bestrebt, den Anschein zu beseitigen,
als ob die Beziehungen zu Italien bei schwebenden Meinungsverschieden-
heiten untergeordneter Art weniger herzliche wären. Sowohl Souveräne
wie leitende Minister brächten Italien in dieser Hinsicht mit liebenswürdiger
Höflichteit ihre aufrichtigen Gefühle als Verbündete zum Ausdruck. Alle
chritte würden nur von jenen Leuten entstellt beurteilt, welche versuchen,
die öffentliche Meinung Europas gegen Italien einzunehmen. Die gegen-
wärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse habe er nicht durch seine Politik ver-
schuldet. Das Defizit und das wirtschaftliche Unbehagen seien schon vor
seinem Amtsantritt vorhanden gewesen, die gegenwärtigen Budgetschwierig-
keiten rührten weder von den Rüstungen noch von der Tripelallianz her,
ohne die letztere müßte Italien seine Armee verdreifachen und seine Be-
festigungen vermehren. Da Italien nicht die Abrüstung aller Staaten er-
reichen könne, würde es ein Verbrechen begehen, wenn es allein abrüsten
wollte. Um das Defizit, welches bereits vermindert sei, vollständig zu be-
seitigen, werde die Regierung die Vereinfachung des Verwaltungswesens, die
Verteilung der größeren öffentlichen Arbeiten auf mehrere Finanzjahre und
eine Verbesserung der Steuereinhebung beantragen. Die Regierung sei fest
entschlossen, neue Steuern nicht vorzuschlagen. Man habe die Differential-
zölle gegenüber Frankreich beseitigt und hoffe nun, aber ohne großes Ver-