Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Aebersicht der politischen Enimickelnng des Jahres 1890. 313 
zurückgedrängt worden, die an sich berechtigt, auch prinzipiell keines- 
wegs in einer anderen Richtung, doch durch die Zufälligkeiten, die 
jeder Individualität anhaften, bei ihm irgend eine Antipathie er- 
regt hatten und dadurch zurückgehalten wurden. Es hätte auch noch 
einige Jahre so fortgehen können, ohne daß ein gar zu großer 
Schaden daraus entstanden wäre. Das Leben großer Reiche ist 
zähe und entwickelt sich ohnehin niemals ganz gleichmäßig. Em- 
pfunden wird freilich ein jeder solcher Mißstand sehr schnell, und 
im Deutschen Reiche war die Persönlichkeit vorhanden, die den 
drohenden Stillstand in der Gesetzgebung nicht mit anzusehen ver- 
mochte. Das war der junge Kaiser. Er hatte sich in dem ersten 
Jahr seiner Regierung mit dem Fürsten Bismarck vorzüglich zu 
verständigen gewußt. Nun begannen ihre Wege sich zu trennen. 
Im einzelnen verliefen die Dinge folgendermaßen. 
Die soziale Reformbewegung, welche Fürst Bismarck selber 
in Deutschland zwar nicht hervorgerufen, aber praktisch gemacht 
und ins Leben eingeführt hat, umfaßt ihrer Natur nach auch eine 
sogenannte Arbeiterschutzgesetzgebung, d. h. gesetzliche Vorschriften 
gegen gesundheitswidrige und das sittliche Leben schädigende Ueber- 
anstrengung der Arbeiter in den großen Betrieben, namentlich in 
Bezug auf Sonntagsruhe, Frauen= und Kinderarbeit. Die meisten 
Kulturstaaten haben bereits solche Gesetzgebung und auch die dazu 
gehörige Fabrik-Inspektion, die für die Kontrolle sorgt. In Deutsch- 
land war in dieser Richtung bisher wenig geschehen, weil in einer 
merkwürdigen doktrinären Verkennung gerade der Reichskanzler 
widersprach. Selbst die ursprünglich ebenfalls aus freihändlerischen 
Prinzipien gegen eine Arbeiterschutzgesetzgebung eingenommene 
deutschfreisinnige Partei hatte sich allmählich zu ihr bekehrt, aber 
auch einstimmige Beschlüsse des Reichstages waren nicht im stande, 
den Willen des Kanzlers zu erschüttern. Bei dem lebendigen Inter- 
esse des Kaisers an der sozialen Frage, das sich im Jahre 1889 
in dem Empfang der Bergmanns-Deputierten so imponierend aus- 
gesprochen, hatte der hohe Herr natürlich längst seine Aufmerksam- 
keit auch auf diesen Punkt gerichtet. Er wollte vorwärts in der 
Socialreform; der Kanzler wollte Halt machen. Mit dieser Frage 
verflocht sich die nach der weiteren politischen Behandlung der Sozial-
	        
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