Aebersicht der politischen Eutwichelung des Jahres 1890. 319
tiefe Rückwirkung auf das politische Leben und die Beziehungen
der Parteien kann dann nicht ausbleiben.“ Dieser Fall war jetzt
eingetreten. Zwar waren die Preise noch immer keineswegs hoch,
aber doch für Roggen über dem Durchschnitt und einige überscharfe
sanitäre Maßregeln gegen Viehseuchen steigerten zugleich die Fleisch-
namentlich die Schweinefleisch= und Schmalzpreise. Mit aller Energie
machte sich die deutschfreisinnige und die sozialdemokratische Partei
diesen Umstand zu nutze und führte den Wahlkampf in erster Linie
mit dem Schlachtruf „gegen die Lebensmittelverteurer“. Die neue
Branntweinsteuer wirkte für weite Kreise des Volkes in derselben
Richtung. Um unter allen Umständen zunächst das „Kartell“ nie-
derzukämpfen, hielten alle anderen Parteien in einer Art Anti-
kartell gegen jenes zusammen; ohne Rücksicht darauf, daß ja grade
das Zentrum mehr als irgend eine andere Partei für die „Lebens-
mittelverteuerung" gethan hatte, marschierten protestantische Liberale
mit ultramontanen Klerikalen Arm in Arm zur Wahlurne.
Wie vorauszusehen, erlitt das Kartell eine Niederlage; das
Zentrum, der Deutschfreisinn und die Sozialdemokraten gewannen
zusammen etwa 70 Stimmen. Die Sozialdemokraten kamen von
11 auf 35 Stimmen, noch 10 Stimmen mehr als 1884. Auch die
deutschfreisinnige Partei zeigte wieder neue Lebenskraft, während
gerade die Mittelparteien, die Nationalliberalen und Freikonser-
vativen, am meisten verloren. (Die Zahlen s. S. 32).
Mit Reichstagen ähnlicher Zusammensetzung hatte nun auch
der Fürst Bismarck von 1881—1887 zu regieren verstanden und
diese beiden Legislaturperioden waren sogar sehr fruchtbar gewesen.
Indem sie Stück für Stück die Kulturkampf-Gesetzgebung opferte,
erkaufte die Regierung vom Zentrum die Zustimmung zu einer
Reihe von epochemachenden Gesetzen, denen der Liberalismus befangen
in veralteten Doktrinen sich versagte. Wie schon oben berührt,
schien der Fürst Bismarck in der That den Gedanken zu erwägen,
diesen Weg von neuem zu beschreiten, also von der national-
liberal-konservativen zu einer konservativ-klerikalen Anlehnung über-
zugehen, während in den „Preußischen Jahrbüchern“ empfohlen
wurde, mit den gemäßigten und patriotischen Elementen der deutsch-
freisinnigen Partei eine Anknüpfung zu suchen. Ehe hierin ein