Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

320 Nebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1890. 
Schritt nach irgend einer Richtung geschehen war, war der Fürst 
Bismarck von der Regierung zurückgetreten. Sein Nachfolger wurde 
der General v. Caprivi, der wegen seines zuverlässigen und be- 
stimmten Charakters von allen Seiten mit Zustimmung und Ver- 
trauen aufgenommen wurde. Er erklärte in seiner ersten Rede im 
Abgeordnetenhause, daß der „Kurs der alte bleibe“, wie der Kaiser 
selbst gleich nach der Entlassung des Fürsten Bismarck es ausge- 
sprochen (vgl. 22. März), und daß man bereit sei, Gedanken und 
Münsche, die etwa durch die übermächtige Persönlichkeit seines großen 
Vorgängers zurückgehalten worden, nunmehr aufzunehmen, „von wo 
und von wem diese Ideen auch kommen.“ Damit war die Möglichkeit 
eines modus vivendi auch mit der deutschfreisinnigen Partei ge- 
schaffen. Nach einiger Zeit trat an Stelle des Ministers v. Scholz 
Herr Migquel an die Spitze des Finanzministeriums und verstärkte 
noch in der Regierung die Tendenz zum Liberalismus, ohne daß diese 
darum dem Zentrum feindlich wurde. Es gab einen Moment, wo 
die „Preußischen Jahrbücher“ als Anspielung auf die Gegenwart 
einen Gesandschaftsbericht aus England vom Jahre 1742 zitieren 
durften, in dem es heißt: „Was in 28 Jahren nicht gesehen, nicht 
gehört, nicht geglaubt worden, das hat sich nunmehr ergeben; Whigs 
und Tories, Patrioten und wie sie alle hießen, seien einig mitein- 
ander und wetteiferten miteinander, ihre Königstreue und Vater- 
landsliebe zu bethätigen. Whigs und Tories wurden bei Hofe ge- 
sehen und gnädig empfangen, weder im Ober= noch im Unterhause 
gäbe es eine Opposition; was der König vom Parlament fordern 
möge, alles werde ihm bewilligt.“ Die Situation fand ihren Aus- 
druck darin, daß das Präsidium des neuen Reichstages aus einem 
konservativen Anhänger des Kartells, einem Zentrumsmitgliede und 
einem Deutschfreisinnigen zusammengesetzt wurde. 
Militär- So glücklich dieser Anfang zu sein schien, so entwickelte sich die 
vorlage. neue Situation doch nur langsam. Ein taktischer Fehler des Kriegs- 
ministers v. Verdy warf alles wieder über den Haufen. Die Regierung 
brachte eine Militärvorlage in dem neuen Reichstag ein, die eine 
Verstärkung des stehenden Heeres um 18,000 Mann und 70 Bat- 
terien forderte. In Erinnerung der Krisis von 1887 und da der 
Reichskanzler das Septennat als solches von vornherein fallen zu
	        
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