Aebersicht der politischen Entwickelung des Jahres 1890. 323
tischen Anlaufs zu behandeln. Der eine betrifft die Einführung
von Gewerbegerichten zur Schlichtung der Streitigkeiten zwischen
Arbeitern und Arbeitgebern. Die Gerichte werden gebildet von
gewählten Arbeitern und Arbeitgebern unter Vorsitz eines Unpar-
teiischen. Die sehr langwierigen und langweiligen Reichstagsver-
handlungen drehten sich meist nur um Nebenpunkte, um das Wahl-
recht weiblicher Arbeiter, um das Grenzjahr für das Wahlrecht
und um die Errichtung eigener Innungsgerichte. Die einzige wesent-
liche Verbesserung, die der Reichstag dem Regierungsentwurf hin-
zufügte, war die Wahl der Arbeitervertreter mittelst geheimer
Stimmabgabe. (Gesetz v. 29. Juli.)
Noch ausführlicher gestalteten sich die Verhandlungen über
die im Anschluß an die große internationale Konferenz vorgeschlagene
Arbeiterschutz-Gesetzgebung. Es handelt sich um eine Ausgestaltung
der Paragraphen der Gewerbeordnung, die von der Sonntagsarbeit,
Frauen= und Kinderarbeit handeln. Verbunden aber wurde hier-
mit die Einführung von „Bußen“, die dem Arbeitgeber im Falle
des Kontraktbruchs des Arbeiters einen gewissen Schadenersatz ermög-
lichen. Die Kommission, an die der Entwurf gewiesen war, faßte zu-
nächst ziemlich radikale Beschlüsse, so daß weite Kreise der Arbeit-
geber von Unruhe ergriffen wurden. Dann wurde die Arbeit unter-
brochen, indem der Reichstag sich (ohne die Session zu schließen) bis
zum Herbst vertagte. In der Zwischenzeit wurden große Enqueten
bei den Fabrikanten veranstaltet und auf Grund deren Aussagen die
Kommissionsbeschlüsse erster Lesung in der zweiten Lesung vielfältig
gemildert. In das Plenum gelangte der Entwurf in diesem Jahr
nicht mehr.
Mit dem 1. Oktober erlosch das Sozialistengesetz, ohne daß
eine unmittelbare Rückwirkung auf die öffentlichen Zustände zu be-
merken gewesen wäre.
Das preußische Abgeordnetenhaus war in der Wintersession Preußi-
aus den oben entwickelten, auf den Fürsten Bismarck zurückzufüh- e-
renden Gründen wenig beschäftigt. Das einzige Gesetz von einiger «
Bedeutung, welches zu stande kam, war die, auf die Anregung des
Abgeordneten Sombart zurückzuführende Schaffung der Institution
der Rentengüter. Diese einigermaßen mit der alten Erbpacht ver-
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