Das beutsche Reich und seine einzeluen Glieder. (Mai 16.) 83
werden, daß wir früher mit erheblich weniger ausgekommen sind. Das aber
ist nicht der Fall. Im Jahre 1816, also unmittelbar nach einem Kriege,
der das kleine Preußen erschöpft hatte, der ihm einen Aderlaß gegeben, wie
wir ihn, so Gott will, nicht wieder erleben werden, im Jahre 1816 also
betrug der Prozentsatz der in das stehende Heer eingereihten Ziffer der Be-
völkerung 1,25, also ¼ mehr, als was wir heute stellen. Allmählich, in
den 20er Jahren, sinkt diese Zahl, im Jahre 1832 ist sie auf 1 Proz. der
Bevölkerung heruntergekommen, sie sinkt weiter und kommt auf die niedrigste
Ziffer, die 7 jemals in Preußen gehabt, auf 0,79 Proz., und zwar, meine
Herren, war das im Jahre 1850, in den unglückfeligen Tagen von Olmütz.
eder, der die neueste Geschichtsschreibung gelesen hat, weiß, welche Rolle um
diese Zeit der Mangel an Schlagfertigkeit der Armee gebildet hat, wie weit
das in unsere Verhältnisse eingegriffen hat. Ich wiederhole noch einmal, das
Jahr mit der niedrigsten relativen Präsenzstärke ist wohl das politisch un-
glücklichste, seit wir die Wehrverfassung vom Jahre 1814 haben. Dann steigt
die Ziffer allmählich mehr. Im Jahre 1860, bei Beginn der Reorganisation,
erhebt sie sich auf 1,10 Proz., im Jahre 1861 auf 1,12 Proz. Nun hatte
man unmittelbar nach dem Kriege — und wir alle haben das gehabt, auch
wir Soldaten — das Gefühl, daß der Staat voraussichtlich, oder das Reich,
will ich sagen, in absehbarer Zeit nicht wieder zu so starken militärischen
Leistungen gedrängt werden würde. Man schwelgte im Vollgefühl des ver-
größerten Deutschlands und man glaubte, daß, da nun unser Vaterland so
groß geworden, auch die Lasten geringer werden würden. So blieb die
Präsenzziffer verhältnismäßig gering und ging allmählich sogar zurück. Sie
kam im Jahre 1875 auf 0,94 Proz., im Jahre 1880 blieb sie auf 0,94 Proz.
und das war schon eine Folge der durch Bruch des Septennats erwirkten
Erhöhung der Präsenzstärke. Also wir find nun heute, indem sich die Not-
wendigkeit herausgestellt hat, sie zu erhöhen, noch nicht auf dem Standpunkt
angekommen, auf dem wir im Jahre 1816 waren, und wenn das jetzige
Gesetz von Ihnen angenommen wird, so werden wir voraussichtlich in Bezug
auf die Bevölkerungszahl bei der nächsten Zählung im kommenden Winter
wieder es nur bis auf 1 Proz. gebracht haben. Ich glaube, meine Herren,
daß man unter diesen Verhältnissen nicht von einer kolossalen und über-
mäßigen Belastung der Bevölkerung sprechen kann.
Wir sind dadurch, daß wir genötigt wurden, nachdem die ersten Jahre
nach dem Frankfurter Frieden vorüber waren, uns im Auslande umzusehen,
durch die Leistungen des Auslandes allmählich in die Höhe getrieben worden,
und es kann sich nur noch fragen — darauf bezog sich die Aeußerung, die
der Herr Kriegsminister über andere Pläne gemacht hat —, ob wir in diesem
Zustande verharren und uns nur schrittweise von Mann zu Mann durch das
Ausland drängen lassen oder ob wir der Sache dreist ins Gesicht sehen und
uns sagen: kommt der Zukunftskrieg, so kann kein waffenfähiger Mann zu
Hause bleiben, wir wollen also die Organisation so schaffen, daß alle zum
Waffendienst ausgehobenen Leute auch fähig sind, die Waffen auszunützen.
Das ist ein Punkt, in dem, wie ich nun hoffen darf, die verbündeten Regie-
rungen sich mit dem Herrn Abg. Richter eins wissen werden, der auch auf
volle Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht, des alten Scharnhorst'schen
Gedankens, ausgehen will. Es läßt sich in der That, wenn man annehmen
will, daß wir von Staaten umgeben sind, deren Bevölkerungsziffern, wenn
Sie sie summieren, die unserige bei weitem übersteigen, bei einer beschränkten
Leistung unsererseits nicht stehen bleiben. Das Halten stehender Heere im
Frieden hat für die Staaten ungefähr die Wirkung wie eine Versicherung
gegen Feuer oder irgend ein anderes Naturunglück für den einzelnen, es ist
eine unproduktive Ausgabe, eine, die man am liebsten von Jahr zu Jahr
6“