Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Sechster Jahrgang. 1890. (31)

Mas beutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 16.) 85 
ich von der Disziplin verlangen muß, daß sie die Untergebenen des Vorge- 
setten dazu befähigt, ihm, ohne auch nur zu reflektieren, in den Tod zu 
olgen, so ist das eine Leistung, die, glaube ich, von keiner anderen Insti- 
tution im Staate gefordert wird, die einer so vorsichtigen Behandlung bedarf, 
daß ich einer Aenderung der Dienstzeit, welche die Disziplin gefährden könnte, 
nur schwer zustimmen würde. Daß aber die Erhaltung der Disziplin un- 
gleich schwerer wird, wie früher, das, glaube ich, beweist ein einfacher Blick 
auf die Agitation, die im Lande seitens einer zahlreichen Partei getrieben 
wird. Noch hat die Partei zu meiner Freude, soweit mein Auge hat sehen 
können, nicht den mindesten Einfluß auf die Disziplin in der Armee geübt, 
aber wir müssen berücksichtigen, daß uns eine zuchtlose Jugend heranwächst, 
die zur Disziplin zu erziehen ungleich schwieriger ist, als dies früher der 
Fall war. Wenn das einmal zugegeben wird, so bin ich weiter der Mei- 
nung, daß von einer prinzipiellen Verkürzung der Dienstzeit nicht die Rede 
sein könne. Wie weit kehif Beurlaubungen möglich sein werden, das zu 
beurteilen überlasse ich den Herren Militärs; dafür wird die Kommission 
der Ort sein. 
Die dritte Forderung, welche der Herr Abg. Richter stellte, war die 
jährliche Bewilligung der Präsenzstärke. Er will vom Septennat nichts mehr 
wissen. Das ist nicht wesentlich eine militärische Frage, sie kann erst in 
ihrer weiteren Folge militärisch werden, es ist eine konstitutionelle Frage, 
will ich sagen; es ist eine Frage, über die sich in jeder Beziehung reden läßt. 
Warum sollen es gerade sieben Jahre sein, es können auch neun, fünf, drei 
Jahre sein. Darüber kann man streiten, und ich gebe zu, wenn einmal die 
Scharnhorst'sche Idee, also die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht in 
die Hand genommen werden soll, dann wird, so viel ich wenigstens übersehe, 
es mit siebenjährigen Perioden nicht mehr gehen, weil die Scharnhorst'sche 
Idee zur Voraussetzung hat, daß mit steigender Bevölkerungsziffer auch die 
Zahl der präsenten Menschen bei der Fahne wächst. Man könnte also bei- 
spielsweise — ich spreche hier nur meine persönliche Ansicht aus, ich weiß 
nicht, wie die verbündeten Regierungen dazu stehen werden — auf den Ge- 
danken kommen, eine fünfjährige Frist zu nehmen in Uebereinstimmung mit 
der Legislaturperiode und auch der Volkszählung. Also das ist ein Gebiet, 
auf dem mehr der Politiker mitzureden haben wird, als der Soldat, es ist 
aber keine Frage, die das Sein oder Nichtsein der Armee in Frage stellt. 
(Hört, hört! Links.) Ja, wenn Sie von dieser Aeußerung so befriedigt Akt 
nehmen, so möchte ich doch sagen, daß ich weder befugt bin, in dieser Be- 
ziehung ein Zugeständnis zu machen, noch auch, daß ich für meine Person 
gewillt wäre, es über fünf Jahre hinaus auszudehnen. 
Im übrigen weiß ich, daß die Vorlage in der Kommission am besten 
vertreten sein wird, und gebe mich der Hoffnung hin, daß sie ihre Annahme 
finden wird. 
16. Mai. (Königsberg.) Bei dem von den Provinzial- 
ständen gegebenen Diner sagt der Kaiser in einer Rede: 
Ich weiß sehr wohl, Meine Herren, daß Momente kommen mögen 
gerade in einer Provinz, wie dieser, mit überwiegend ländlicher Bevölkerung, 
wo es Ihnen Sorge machen kann, wohin es wohl mit Ihnen gehen werde. 
Seien Sie unbesorgt, Meine Herren! Wenn es auch zuweilen so scheinen 
mag, als ob die Sympathie oder das Verständnis für die Interessen der 
Landwirtschaft nicht da seien, . mögen Sie sicher sein: der König von 
Preußen steht so hoch über den Parteien und über dem Getriebe des Partei- 
haders, daß Er, unentwegt auf jeden einzelnen Seines Landes schauend, auch 
für das Wohl jedes einzelnen und jeder Provinz beflissen ist. Ich weiß sehr
	        
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