Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

Das Fentshe Reith und seine einzelnuen Glieder. (Mai 22. -28.) 99 
wecken, daß wir wieder seien, wie Schiller sagt: „Ein einig Volk von Brü- 
dern, In keiner Not uns trennen und Gefahr“". Heute kann keinen Sachsen 
mehr eine Gefahr treffen, die nicht von jedem Bayern oder Preußen als die 
seinige betrachtet würde. In die alte Sünde der Zerrissenheit werden wir 
nicht wieder verfallen. Ein solcher Wechsel wäre aber nicht möglich gewesen, 
wenn nicht unter der Asche immerfort glimmend gehalten worden wäre das 
alte brüderliche Gefühl, das in der alten Kaiserzeit die Deutschen vereinte. 
Und wer hat dieses stille Feuer gepflegt? Die deutsche Wissenschaft, die 
deutsche Poesie und nicht zum wenigsten auch das deutsche Lied. Wir haben 
nie eine sächsische oder preußische, sondern eine deutsche Musik gehabt, und 
wenn ein Lied gedichtet war, das in deutschen Herzen Widerhall fand, so war 
es einerlei, ob es aus Weimar, aus Schwaben oder aus Berlin kam, es 
hatte keine partikularistische Heimat. So hat das deutsche Lied das Gefühl 
für nationale Zusmmengehörigkeit gepflegt, zugleich mit den Universitäten 
und der gesamten Litteratur. Namentlich sind es die Liedertafeln, die mit 
der Kraft der Musik immer an das Gefühl appellierten. Das Gefühl ist in 
dieser Beziehung stärker als der Verstand, und deshalb müssen wir denen 
besonders dankbar sein, die das Deutschtum auf dem Wege der Musik 
pflegten. Erlauben Sie mir, dieser Empfindung, die ich nicht nur perfön- 
lich, sondern auch auf politischem Gebiete bei meinem langjährigen Anteil 
an der Politik stets gehabt habe, ein Glas zu weihen. Ich bringe es 
Ihrer Liedertafel als der Vertreterin der alten deutschen Volksmusik und 
des deutschen Einheitsgedankens. Möge sie es stets bleiben und immerfort 
nachdrücklich auf des Gefühl einwirken — und wenn der Verstand einmal 
wieder die Uebermacht bekommen wollte, dann singen Sie, damit dem Gefühl 
der Sieg bleibe!“ 
22. Mai. In Eisenach findet ein natio nalliberales 
Parteifest statt. 
22. Mai. (Mannheim.) Parteitag der deutschfrei- 
sinnigen Partei. 
26. Mai. Oberbürgermeister v. Forckenbeck f. Der Probst 
Jahnel versagt ihm das katholische Begräbnis. 
Als Grund wird angegeben, daß Forckenbeck dem Gerichtshof für 
kirchliche Angelegenheiten angehört habe. 
27. Mai. (Berlin.) Nachdem die konservative Fraktion des 
Abgeordnetenhauses am 30. April beschlossen, die Judenfrage in 
das konservative Programm aufzunehmen, beschließt sie auf Antrag 
des Grafen Kanitz, weil eine befriedigende Formulierung nicht zu 
finden, die Programmrevision überhaupt zu sistieren. 
27. Mai. Sitzung des Elfer-Ausschusses der deutsch- 
konservativen Partei. An Stelle des Herrn v. Helldorf wird 
v. Manteuffel zum Vorsitzenden gewählt. 
28. Mai. (München.) Im Landtagsabschied werden 
sämtliche von dem Landtage gefaßten Beschlüsse genehmigt. 
Ferner wird für eine künftige Reichs-Militär-Strafprozeßordnung 
thunlichste Berücksichtigung der bayerischen Einrichtungen, insoweit sich die- 
selben bewährt haben, zugesichert. Dem nächsten Landtage werde eine Vor- 
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