Das Denisqhe Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 27.) 111
Widerstand leistete, hat er mich unter Gründen der Schonung meiner Ge-
sundheit von Berlin und aus dem lebendigen Zusammenhang der Dinge
ferngehalten. Es war keineswegs mein Bedürfnis und mein Wunsch, wenn
ich oft so lange von Berlin abwesend war.
Das Schlimmste nun, was unter Caprivi geschehen ist, das ist die
kopfüber erfolgte Abreißung aller Fäden mit Rußland. Der Kaiser glaubte
durch seine große persönliche Liebenswürdigkeit die Russen auch politisch —
wie man zu sagen pflegt — „einwickeln“ zu können. Geschäftige, wo nicht
bestellte Zwischenträger überbrachten aber unserem Kaiser schon in Peters-
burg Aeußerungen über ihn aus der Umgebung des Zaren, welche an der po-
litischen Erfolglosigkeit des Besuches keinen Zweifel mehr zuließen. Unter
diesen Umständen erschien die sofortige Reise nach England mit den an-
schließenden afrikanischen Verträgen als eine Gegendemonstration gegen Ruß-
land, welcher die für letzteres noch empfindlichere polenfreundliche preußische
Politik folgte. Unserer auswärtigen Politik konnte nichts verhängnisvolleres
angethan werden, als ein Einlenken in eine preußische Polenpolitik, welche
Aehnlichkeit mit der österreichischen hat und den Russen für den Kriegsfall
eine polnische Legion, für den Fall einer russischen Niederlage das Königreich
Polen am Horizont zeigt. Das mußte ein Kronstadt herbeiführen.
In Rußland sind es überhaupt nur die Polen, welche zum Kriege
hetzen und Rußland gegen Deutschland aufbringen, in der Hoffnung, daß
Rußland geschlagen würde, und ein neues Großpolen die Folge der russi-
schen Niederlagen sein würde. Darum ist der Pole seinem Nationalcharak-=
ter: heute „Jeseze Polska“, morgen „Krapulinski und Waschlapski“ ent-
sprechend — für die Verhetzung Deutschlands gegen Rußland und vice versa
thätig. Die deutschfeindlichen Artikel der russischen Bläter werden von Polen
geschrieben. Der Russe kann überhaupt keine zielklaren politischen Leitartikel
schreiben: er ist Romantiker; Märchen, Tausend und eine Nacht, Poesie,
Dämmeraugen, Sentimentalitäten — das ist seine schriftstellerische Stärke.
Die politischen Zeitungen werden von den Polen gemacht, und ein Kenner
der Verhältnisse liest aus den scheinbar nationalrussischen deutschfeindlichen
Leitartikeln der russichen Blätter das „Jescze Polska“, die großpolnische
Nationalhoffnung immer heraus. Die Polen in Rußland hetzen gegen
Deutschland, während und weil sie im Grunde ihrer Seele auf eine russische
Niederlage hoffen. Caprivi hat aber unser Verhältnis zu Rußland gerade
an der Stelle vergiftet, wo Rußland am allerempfindlichsten ist: in der
Polenfrage. Die Besetzung des Gnesener Bischofsstuhles mit einem National-
polen war nicht nur ein Irrtum unserer inneren, sie war vor allem ein
Fehler unserer auswärtigen Politik und ein vollwichtiger Beweis, daß Herr
v. Caprivi seinem schwierigen Amte nicht gewachsen ist.“
27. Juni. Ein Mitarbeiter der „Münchner Neuesten Nach-
richten interviewt den Fürsten Bismarck in Kissingen. Dieser äußert
dabei auf die Frage nach der Versöhnung mit dem Kaiser:
„Ich bin bei dem Kaiser in Ungnade gefallen, und ich weiß heute
noch nicht, warum. Von einer Versöhnung kann man doch nicht sprechen.
Der Kaiser ist nicht,, meinte Fürst lächelnd, „bei mir in Ungnade gefallen.
Wenn Se. Majestät die Ungnade aufhebt, wäre das Verhältnis ja das alte.
Ich glaube gewiß, daß Intriguen mit untergelaufen sind. Der Kaiser hätte
ja gewiß sein eigener Kanzler sein können, das Ausscheiden aus meinem
Amte hätte mich nicht geschmerzt, aber tief schmerzt mich die Form, in der
es geschehen ist. Ich habe zwar immer gedacht“, fuhr der Fürst fort, „daß