Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

NHas Veutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (November 4.) 147 
merkt — im Auswärtigen Amt. Es läßt sich daran gar nicht deuteln und 
rütteln. 
„Die Sendung des Herrn von Radowitz nach St. Petersburg hatte 
einen ganz anderen Zweck, als den, welchen der kundige Thebaner der 
„Deutschen Revue“ ermittelt hat. Diese behauptet, ich hätte den ghermn von 
Radowitz beauftragt, „dem Fürsten Gortschakow vertraulich zu eröffnen, daß 
meiner Ansicht nach Frankreich einen Angriff auf Deutschland plane und 
letzteres in die Notwendigkeit sich versetzt sehen könne, demselben zuvor zu 
kommen, in diesem Falle hoffe ich, daß Rußland dieselbe wohlwollende 
Neutralität beobachten werde wie 1870, zumal es dann in der Lage sein 
werde, seine großen Projekte im Orient auszuführen. „Es ist schwer zu 
begreifen, wie der Kanzler an den Erfolg eines solchen Schrittes glauben 
konnte!“ ruft der Anonymus der „Deutschen Revue“. Ja, ich würde mich 
selbst nicht begriffen haben, wenn ich an den Erfolg eines solchen Schrittes 
hätte glauben können. Aber ich habe ihn nicht gethan, sondern Herr von 
Radowitz sollte unsern Vertretern in St. Petersburg, dem Stellvertreter 
des Prinzen Reuß, unfres Botschafters, der beurlaubt war, und unserm 
Militärbevollmächtigten, dem General v. Werder, vorstellen. ich müsse mir 
entschieden verbitten, daß sie sich von dem Fürsten Gortschakow so wie bisher 
mißbrauchen oder geradezu notzüchtigen ließen, mir alle indiskreten Fragen, 
welche der russische Premier an mich zu richten für gut finde, auf Kosten 
des preußischen Staates zu telegraphieren. Fürst Gortschakow hatte nämlich 
im russischen Budget ein Pauschquantum zur Deckung seiner Auslagen für 
amtliche Depeschen zugewiesen erhalten. Was er an dieser Pauschsumme 
sparte, fiel in seine Tasche. Und nun benutzte er in unverschränktester 
Weise unfre Botschaft und Militärvertretung in St. Petersburg, um auf 
preußische Kosten Telegraphenauslagen zu sparen. Ich ließ also den Herren 
sagen, wenn ihnen Gortschakow wieder so unzüchtige Zumutungen mache, so 
sollen sie ihn einfach an den russischen Botschafter in Berlin verweisen. 
Durch diesen allein habe mir Gortschakow Fragen vorzulegen. Außerdem 
aber sollte Herr v. Radowitz dem Zaren die Freude des Königs und mein 
Empressement ausdrücken, den Kaiser Alexander im Mai in Berlin begrüßen 
zu dürfen.. Auch für den Fürsten Gortschakow führte Herr von Radowitz 
eine größere Sauce diplomatischer Schmeichelei bei sich. Gortschakow war 
damals noch nicht mein persönlicher Feind, wie nach dem Berliner Kon- 
gresse, sondern nur mein boshafter Neider, weil ich ihm etwas über den 
Kopf gewachsen war. Denn ich hatte ihn — seit unserm dreijährigen Zu- 
sammen= oder Nebeneinanderwirken im diplomatischen Rollenfach in St. 
Petersburg während der Zeit meiner St. Petersburger Gesandtschaft — ich 
hatte ihn daran gewöhnt, von mir als mein Meister in der diplomatischen 
Kunst verehrt zu werden. Ich habe auch nie versäumt, ihm zu versichern, 
daß ich alle guten Eigenschaften, die ich etwa besäße, allein ihm zu ver- 
danken hätte. Aber mit diesen Tugenden ausgerüstet, wurde ich ihm auf 
die Dauer doch ziemlich unbequem, und schon damals suchte er mich bei 
seinem Kaiser als Friedensstörer zu verdächtigen und sich selbst, wenn 
irgend möglich, als Friedensstifter hinzustellen und preisen zu lassen. Es 
war für ihn nicht schwer, diese Absichten auch in Berlin mit den ent- 
sprechenden Verdächtigungen meiner Friedensliebe an den richtigen Mann 
zu bringen — bei seinem Kaiser siel es ihm weit schwerer, denn der hatte 
bis an sein tragisches Ende ein unbegrenztes Zutrauen zu mir — aber der 
französische Botschafter in Berlin, Herr v. Gontaut-Biron, war sehr bereit, 
mich und Gortschakow die von diesem gewünschte Rolle spielen zu lassen. 
Denn Gontaut-Biron hatte gute Beziehungen mit den mir wenig geneigten 
Kreisen der Kaiserin Augusta und des Zentrums. Er war außerdem guter 
10“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.