Nebersicht der potitischen Eutwickelung des Jahres 1892. 325
Ereignis, das Europa erlebt hat, war die Vertreibung des Fürsten
Alexander aus Bulgarien im August 1886. An dieses muß man
anknüpfen, um die heutige Situation und den scheinbaren Still-
stand der Politik zu verstehen. Weder der zweimalige Thronwechsel
in Deutschland, noch der Rücktritt des Fürsten Bismarck haben auf
die europäische Politik einen merklichen Einfluß geübt. Die grandi-
osen Demonstrationen beim Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II.,
die Versammlung der deutschen Fürsten in Berlin, die Reisen an
die großen europäischen Höfe, die Fürstenbesuche seither, wie der
Besuch Kaiser Alexanders in Kiel im verflossenen Jahr, haben alle
nur dazu gedient, den bestehenden Zustand zu veranschaulichen, zu
befestigen oder hinzuhalten, aber nicht ihn zu verändern. Auch die
Umwälzung von 1886 in Bulgarien ist nur ein negatives Ereignis,
aber in der Negation, wie sie damals formuliert worden ist, steht
Europa bis auf den heutigen Tag.
Das hauptsächlichste Ergebnis des russisch-türkischen Krieges
war die Begründung des halbsouveränen Fürstentums Bulgarien.
Dieser Staat war von den Russen gedacht als ihre Dependenz, ihre
Kolonie, ihre Brücke, ihr Werkzeug, um das Ideal des orthodoxen
Moskowitertums, die Herrschaft über die Balkanhalbinsel einzu-
leiten und einmal vollständig zu verwirklichen. Die Bulgaren aber
wünschten nicht die türkische Despotie mit der russischen zu ver-
tauschen; es gelang ihnen unter Führung des Fürsten Alexander
sich von den Russen zu emanzipieren und die Russen machten den
Versuch, indem sie den Fürsten beseitigten, ihre Herrschaft wieder-
herzustellen. Fürst Alexander fiel ihnen persönlich zum Opfer, aber
ihren Zweck erreichten sie nicht. Fürst Bismarck hat stets den
Standpunkt verfochten, daß es keineswegs im europäischen, am aller-
wenigsten im deutschen Interesse gelegen habe, die Russen an der
Geltendmachung ihrer Ansprüche in Bulgarien zu verhindern. Es
ist höchst unwahrscheinlich, daß sie damit militärisch oder politisch
eine Stärkung gewonnen hätten. Russische Truppen in Bulgarien
wären bei einem großen europäischen Konflikt viel zu isoliert, um
eine wesentliche Einwirkung auszuüben. Gewinnen sie Anhang
unter den Balkanvölkern, so treiben sie auf der anderen Seite ganz
gewiß noch viel mehr in das entgegengesetzte Lager. Man hätte