Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Achter Jahrgang. 1892. (33)

336 Äebersicht der pelitischen Entwicheluns des Jahres 1892. 
den Mittelparteien nachher einen Kompromißantrag zu machen. 
Ehe es aber so weit kam, trat die Krifis ein. Auch unter den 
Konservativen erregte die Verbrüderung mit dem Zentrum doch 
große Bedenken. Die wachsende Erregung der öffentlichen Meinung 
war unverkennbar und der König wurde auf die Gefährlichkeit der 
Situation aufmerksam gemacht. Bei Gelegenheit einer Kronrats- 
sitzung (17. März) sprach er dem Kultusminister seine Unzufrieden- 
heit aus; er habe von Anfang an keinen Zweifel darüber gelassen, 
daß das Gesetz nur mit Zustimmung der Mittelparteien zu stande 
kommen dürfe. Ob Graf Zedlitz diese Weisung nicht so aufgefaßt, 
ob er geglaubt hat, daß es sich mehr um einen nach Möglichkeit 
zu erfüllenden Wunsch, als um eine positive und unumstößliche 
Schranke handele, oder ob er noch immer die Möglichkeit einer 
Verständigung, wenigstens mit einem Teil der Mittelparteien 
in Aussicht genommen und sich nur durch die Form der königlichen 
Mahnung verletzt gefühlt hat, ist nicht deutlich zu Tage getreten. 
Jedenfalls reichte er noch an demselben Tage seine Entlassung ein. 
Und am nächsten Tage schloß sich ihm der Ministerpräsident und 
Reichskanzler, der mit ihm ja die ganze Zeit Schulter an Schulter 
gefochten hatte, an. 
Die Lösung der Krisis war sehr schwierig. In keinem Lande 
der Welt sind Persönlichkeiten, die sich für die höchsten leitenden 
Stellungen eignen, so selten wie in Deutschland. Der strenge 
Bureaukratismus erzieht vortreffliche Beamte, aber keine Staats- 
männer, und mit bloßen Beamten ist ein konstitutioneller Staat 
doch wieder nicht zu regieren. Außerhalb des Beamtentums gibt 
es sehr wenig Lebenssphären, in denen sich ein künftiger Minister 
bilden und entwickeln kann, am allerwenigsten in den Parlamenten. 
Gerade Graf Zedlitz zeichnete sich dadurch aus, daß er auf Grund 
eines eigentümlichen Bildungsganges nicht an der bureaukratischen 
Schablone klebte. Noch schwerer zu ersetzen erschien Graf Caprivi. 
Durch den bestimmten Wunsch des Kaisers ließ dieser sich endlich 
bewegen, seine Stellung als Reichskanzler beizubehalten, während 
er den Posten als preußischer Ministerpräsident an Graf Botho 
Eulenburg, den früheren Minister des Innern, abgab. Nicht ohne 
schwere Bedenken sah man auf diese Teilung der Spitze der Re-
	        
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